Der Sachverhalt:
Die Kläger werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Klägerin hatte 1994 und 1995 ein Mehrfamilienhaus mit sieben Wohneinheiten errichtet und drei davon im Jahre 1995 veräußert. Das damals zuständige Finanzamt X behandelte dies nach Durchführung einer Steuerfahndungsprüfung als gewerblichen Grundstückshandel und erfasste in dem Einkommensteuerbescheid 1995 bei der Klägerin Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Während des diesbezüglichen Klageverfahrens (7 K 8270/99 E) erging die Entscheidung des Großen Senats des BFH vom 10.12.2001 (GrS 1/98). Der damalige Bevollmächtigte der Kläger wies mit Schriftsatz vom 10.3.2003 darauf hin, dass danach die Voraussetzungen eines gewerblichen Grundstückshandels vorliegen dürften. Allerdings sei das Finanzamt X aufgrund des BMF-Schreibens vom 19.2.2003 (IV A 6-S 2240-15/03) gehalten, die Rechtsprechung des BFH nicht auf die Klägerin anzuwenden. Diese Selbstbindung der Verwaltung müsse auch das Gericht beachten.
Mit Schreiben von Juni 2010 hatten sich die Kläger an den damaligen Finanzminister des Landes NRW gewandt und um Überprüfung der steuerlichen Würdigung des Vorgangs, insbesondere der Anwendung des BMF-Schreibens vom 19.2.2003 gebeten. Das mittlerweile zuständige Finanzamt lehnte die abweichende Festsetzung u.a. unter Hinweis auf das BFH-Urteil vom 8.10.1980 (II R 8/76) über verspätete Billigkeitsanträge sowie auf die Fristen des § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO und des § 228 S. 2 AO durch Bescheid von April 2011 ab. Der Veranlagungszeitraum liege 15 Jahre zurück, der Abschluss des Klageverfahrens mehr als sieben Jahre. Mit ihrer Klage beanstanden die Kläger im Wesentlichen das Fehlen von Ermessenserwägungen.
Das FG gab der Klage statt. Auf die Revision des Finanzamts hob der BFH das Urteil auf und wies die Klage ab.
Die Gründe:
Das Finanzamt hat den Antrag auf abweichende Billigkeitsfestsetzung ermessensfehlerfrei abgelehnt.
Nach § 163 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Verfahrensrechtlich wird die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO, die keines Antrags bedarf, in einem gesonderten Verwaltungsverfahren getroffen. Sie ist sodann ein für die Festsetzung einer Steuer bindender Verwaltungsakt und damit Grundlagenbescheid für die Steuerfestsetzung i.S.d. § 171 Abs. 10 AO, die folglich nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO anzupassen ist. Das hier streitgegenständliche BMF-Schreiben war eine solche ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift. Die Ermessensausübung im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO darf auch ein Zeitmoment berücksichtigen. Es existiert keine gesetzliche Frist für die Entscheidung nach § 163 AO, die als vorrangiges Recht stets zu beachten wäre.
Eine abweichende Festsetzung nach § 163 AO ist unter dem im Streitfall noch geltenden Recht zeitlich nicht mit der Steuerfestsetzung verknüpft, von der aus Billigkeitsgründen abgewichen werden soll. Sie ist nach hergebrachter Rechtsprechung auch möglich, wenn Letztere bereits bestandskräftig ist, und zwar selbst dann, wenn für diesen Bescheid bereits Festsetzungsverjährung eingetreten ist. § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO ermöglicht gleichwohl die Folgeänderung des Steuerbescheids. § 171 Abs. 10 S. 2 AO verlangt zwar für einen Grundlagenbescheid außerhalb von § 181 AO einen Antrag vor Ablauf der Festsetzungsfrist bei der zuständigen Behörde. Die Vorschrift ist jedoch nach Art. 97 § 10 Abs. 12 des Einführungsgesetzes zur AO erst für die am 31.12.2014 noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen anwendbar. Die Festsetzungsfrist für den Einkommensteuerbescheid 1995 war aber spätestens am 8.5.2013 abgelaufen, als die Kläger die Klage gegen den infolge des Urteils vom 16.7.2003 (7 K 8270/99 E) erlassenen Änderungsbescheid zurücknahmen.
Äußert sich eine Verwaltungsvorschrift zu einem nach allgemeinen Grundsätzen als Ermessenskriterium dienenden Punkt überhaupt nicht, hier zum Zeitfaktor, kann dies bedeuten, dass sie die Berücksichtigung des zeitlichen Elements generell ausschließen will. Sie kann aber auch so begriffen werden, dass sie sich auf die Nichtregelung beschränkt und die Lücke mit Hilfe der allgemeinen Grundsätze aufzufüllen ist. Das Finanzamt hat das BMF-Schreiben erkennbar in der zuletzt genannten Weise verstanden, da es andernfalls nicht auf das Zeitelement hätte abstellen können. Dieses Verständnis ist maßgebend. Die Gerichte haben Verwaltungsanweisungen nicht selbst auszulegen, sondern nur darauf zu überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist.
Daran bestehen im Streitfall keine Zweifel. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das BMF-Schreiben die Berücksichtigung des Zeitablaufs kategorisch ausblenden wollte. Dieser lediglich verfahrensmäßige Aspekt hat mit der zugrundeliegenden sachlichen Unbilligkeit in Gestalt der verschärfenden Rechtsprechung zum gewerblichen Grundstückshandel unmittelbar nichts zu tun, sondern gilt für alle Billigkeitsmaßnahmen. Bei der nach § 102 S. 1 FGO gebotenen Prüfung der finanzbehördlichen Entscheidung nach diesen Maßstäben ist die Ablehnung der Billigkeitsmaßnahme nicht zu beanstanden. Das Finanzamt hat weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht.
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