Der Sachverhalt:
Die Schuldnerin A betrieb Spielhallen. Weil in der Vergangenheit in der BFH-Rechtsprechung Zweifel geäußert worden waren, ob die Umsätze eines Automatenaufstellers aus Geldspielgeräten nach § 4 Nr. 9 b UStG steuerbar oder steuerfrei seien, kam es zu Anträgen auf Änderung und nach Ablehnung zu Einspruchsverfahren der damaligen Steuerberater der Schuldnerin hinsichtlich der Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1996 bis 1998. Die Einspruchsverfahren ruhten seit dem Jahr 2001 im Hinblick auf das beim BFH anhängige Verfahren V R 7/02. Schließlich erließ das Finanzamt unter dem 9.1.2004 geänderte Bescheide und hob den bisher bestehenden Vorbehalt der Nachprüfung auf. Die Steuerberater der Schuldnerin legten hiergegen jeweils Einspruch ein. Die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Jahre 1996 bis 1998 seien insoweit aufzuheben, als sie aus Geldspielgeräten resultierten. Derzeit sei in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt, ob die Umsätze aus Geldspielgeräten umsatzsteuerbar seien.
Mit Schreiben vom 30.12.2008 beantragte er, die für die Kalenderjahre 1996 bis 1998 festgesetzten und erhobenen Umsatzsteuern, soweit sie aus Umsätzen für die Geldspielgeräte resultierten, zu erlassen bzw. zu erstatten. Dabei bezog er sich in seinem Antrag ausdrücklich auf die "Umsatzsteuern 1996 bis 1998, soweit sie durch die Betriebsprüfung nachträglich festgesetzt wurden". Die Erhebung der Steuerbeträge sei sachlich unbillig, weil sie materiell der Rechtsprechung des EuGH und der Rechtsprechung des BFH im Urteil vom 12.5.2005, der der Rechtsprechung des EuGH gefolgt sei, nicht entspreche. Auch der Umstand, dass er gegen die Einspruchsentscheidung des Finanzamts vom 15.3.2005 keine Klage erhoben habe, ändere an der sachlichen Unbilligkeit nichts. Das Finanzamt habe die anhängigen Verfahren vor dem EuGH und dem BFH gekannt und trotz Kenntnis des noch offenen Ausgangs des Verfahrens vor dem BFH die Einspruchsentscheidung vom 15.3.2005 erlassen. Das Finanzamt lehnte den Erlass der Umsatzsteuerschulden für die Jahre 1996 bis 1998 ab.
Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage mit Urteil vom 27.7.2011 statt und verpflichtete das Finanzamt, unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide den Antrag des Klägers auf Erlass bzw. Erstattung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Maßgeblich sei insbesondere, dass aufgrund der durch die Finanzbehörde veranlassten unzureichenden Information über den Verfahrensstand des bereits von der Schuldnerin eingelegten Rechtsbehelfs aus Sicht eines ordnungsgemäß handelnden Insolvenzverwalters keine Veranlassung bestanden habe, gegen die Einspruchsentscheidung vom 15.3.2005 Klage zu erheben. Unter dem 15.9.2011 erstattete das Finanzamt dem Kläger unter Bezugnahme auf das finanzgerichtliche Urteil einen Gesamtbetrag von rd. 51.000 €.
Der Kläger beantragte in den Jahren 2008 bzw. 2011 und 2012 die Änderung bzw. Neufestsetzung hinsichtlich der gesamten Umsatzsteuern der Schuldnerin für die Jahre 1996 bis 1998, die von der Rechtsprechung des EuGH bzw. BFH betroffen seien. Die Anträge lehnte das Finanzamt jeweils im Ergebnis bestandskräftig ab. Außerdem beantragte der Kläger unter dem 23.11.2011 den Erlass der Umsatzsteuerbeträge für die Jahre 1996 bis 1998, die nach dem Urteil des FG (s.o.) noch nicht vom Finanzamt erstattet worden seien. Dies sei für das Jahr 1996 ein Betrag von rd. 62.000 €, für das Jahr 1997 ein Betrag von rd. 54.000 € und für das Jahr 1998 ein Betrag von rd. 60.000 €. Das Finanzamt lehnte den Antrag ab. Dem ursprünglichen Erlassantrag vom 30.12.2008 sei bereits abgeholfen worden. Im Übrigen seien Billigkeitsgründe nicht gegeben.
Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage nur teilweise statt. Die Revision zum BFH wurde nicht zugelassen.
Die Gründe:
Die Klage hat keinen Erfolg, soweit sie das Verpflichtungsbegehren des Klägers betrifft, Umsatzsteuern der Insolvenzschuldnerin A für das Jahr 1996 (62.000 €), für das Jahr 1997 (54.000 €) und für das Jahr 1998 (60.000 €) zu erlassen bzw. zu erstatten. Eine solche Verpflichtung nach § 101 S. 1 FGO oder eine Verpflichtung zur Bescheidung nach § 101 S. 2 FGO kommt nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 227 AO vorliegen. Das ist hier nicht der Fall.
Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Eine sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Besteuerung, unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist und deshalb den gesetzlichen Wertungen zuwiderläuft. Bestandskräftig festgesetzte Steuern können grundsätzlich nur dann im Billigkeitsverfahren erlassen oder erstattet werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig war und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren rechtzeitig zu wehren. Demgegenüber ist eine sachliche Unbilligkeit anzunehmen, wenn die Finanzbehörde die Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung in zurechenbarer Weise verursacht hat, weil sie den Steuerpflichtigen sachlich unzutreffend belehrt und über den wahren Verfahrensstand im Unklaren gelassen hat.
Im vorliegenden Fall hat der Kläger gegen die Einspruchsentscheidung vom 15.3.2005 keine Klage erhoben, so dass die Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre bestandskräftig geworden sind. Eine solche Klageerhebung war ihm jedoch zuzumuten. Denn ungeachtet dessen, dass der Kläger vom Beklagten durch dessen unvollständige Belehrung im Schreiben vom 2.11.2004 über den wahren Verfahrensstand und die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Unklaren gelassen worden ist, musste sich dem Kläger später eine zumindest fristwahrende Klageerhebung innerhalb der Klagefrist aufgedrängt haben und war ihm jedenfalls zuzumuten.
Der Kläger hat der Insolvenzschuldnerin die Einspruchsentscheidung vom 15.3.2005 zur Feststellung der Insolvenzforderungen unter dem 16.3.2005 mit der Bitte um Mitteilung übersandt, ob die Steuerforderungen richtig seien, da ihm selbst keine Unterlagen zur Überprüfung vorlägen. Die Insolvenzschuldnerin teilte ihm daraufhin unter dem 4.4.2005 mit, dass sie die Forderungen des Finanzamts nicht in voller Höhe anerkenne, und verwies zur Begründung auf den Schriftwechsel zwischen ihren Steuerberatern und dem Finanzamt, der dem Kläger vorliege. Danach wäre dem Kläger jedenfalls die fristwahrende Klageerhebung zumutbar gewesen. Auch hätte er sich noch bis zum Ablauf der Klagefrist zumindest telefonisch mit den Steuerberatern der Insolvenzschuldnerin oder der Insolvenzschuldnerin selbst in Verbindung setzen können, um weitere Einzelheiten zu erfahren. Das gilt umso mehr, als es sich bei den in der Einspruchsentscheidung aufgeführten Beträgen jedenfalls nicht nur um Bagatellbeträge handelte.
Darüber hinaus hatten ihm die Steuerberater der Insolvenzschuldnerin schon mit Schreiben vom 12.7.2004 mitgeteilt, dass Steuerlasten nach einer Außenprüfung für die Altjahre noch im Einspruchsverfahren strittig seien und bereits ein finanzgerichtlicher Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt worden sei. Der Kläger hätte mithin sogar schon zu einem früheren Zeitpunkt Veranlassung gehabt, sich über die Hintergründe des Einspruchsverfahrens zu erkundigen. Und schließlich handelte es sich bei der Frage der Umsatzsteuerfreiheit für Umsätze aus Geldspielgeräten um das zum damaligen Zeitpunkt gerade aktuelle Rechtsproblem für die gesamte Branche.
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