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Rückwirkende Anwendung eines neueren Bewertungsstandards bei Ermittlung der Barabfindung

BGH 29.9.2015, II ZB 23/14

Der Schätzung des Un­ter­neh­mens­wer­tes im Spruch­ver­fah­ren können auch fach­li­che Be­rech­nungs­wei­sen zu­grunde ge­legt wer­den, die erst nach der Struk­turmaßnahme, die den An­lass für die Be­wer­tung gibt, und dem dafür be­stimm­ten Be­wer­tungs­stich­tag ent­wi­ckelt wur­den. Dem ste­hen we­der der Ge­danke der Rechts­si­cher­heit noch der Ver­trau­ens­schutz ent­ge­gen.

Der Sach­ver­halt:
Auf Ver­lan­gen der An­trags­geg­ne­rin zu 2) hatte die Haupt­ver­samm­lung der An­trags­geg­ne­rin zu 1) im Fe­bruar 2003 die Über­tra­gung der Ak­tien der Min­der­heits­ak­tionäre auf die An­trags­geg­ne­rin zu 2) ge­gen eine Bar­ab­fin­dung i.H.v. 39,85 € je Ak­tie gem. §§ 327a ff. AktG be­schlos­sen. Die Er­mitt­lung des Un­ter­neh­mens­werts und der Höhe der Bar­ab­fin­dung be­ruhte auf dem Gut­ach­ten ei­ner Wirt­schaftsprüfungs­ge­sell­schaft. Da­bei wur­den die Grundsätze zur Durchführung von Un­ter­neh­mens­be­wer­tun­gen des In­sti­tuts der Wirt­schaftsprüfer in Deutsch­land e.V. aus dem Jahr 2000 (IDW S1 2000) her­an­ge­zo­gen.

In einem Ver­gleich im An­fech­tungs­pro­zess ge­gen den Be­schluss ver­pflich­tete sich die An­trags­geg­ne­rin zu 1), die Bar­ab­fin­dung nach Vor­ga­ben zum Be­taf­ak­tor von 0,6 statt 1 zu erhöhen. Die übri­gen Me­tho­den, Pa­ra­me­ter und Prämis­sen, die der Er­mitt­lung der ur­sprüng­li­chen Bar­ab­fin­dung zu­grunde la­gen, soll­ten un­verändert blei­ben. Der Be­trag sollte im Spruch­ver­fah­ren nicht un­ter­schrit­ten wer­den, die ge­richt­li­che Überprüfung der Ab­fin­dung aber un­berührt blei­ben. Die mit der Be­rech­nung der Bar­ab­fin­dung be­auf­tragte Wirt­schaftsprüfungs­ge­sell­schaft er­rech­nete einen Be­trag von 52 € je Ak­tie.

In dem von den An­trag­stel­lern ein­ge­lei­te­ten Spruch­ver­fah­ren hat das LG ein Sach­verständi­gen­gut­ach­ten mit ei­ner vollständi­gen Neu­be­wer­tung ein­ge­holt. Der Sach­verständige hat un­ter Zu­grun­de­le­gung ei­nes höheren als des ur­sprüng­lich ge­schätz­ten Um­satz­wachs­tums, ei­nes an­de­ren Ba­sis­zins­sat­zes und ei­ner ab­wei­chen­den Markt­ri­si­koprämie einen Un­ter­neh­mens­wert nach dem IDW S1 2000 und nach dem IDW S1 2005 er­rech­net, wor­aus sich je Ak­tie ohne Berück­sich­ti­gung des Di­vi­den­den­an­spruchs für das Jahr 2002 von 0,53 € je Ak­tie 65,48 € (IDW S1 2000) bzw. 48,94 € (IDW S1 2005) als Ab­fin­dungs­be­trag er­ga­ben.

Das LG hat die Bar­ab­fin­dung nach IDW S1 2000 mit ei­ni­gen Ände­run­gen auf 57,77 € je Ak­tie fest­ge­setzt. Da­ge­gen ha­ben meh­rere An­trag­stel­ler, der ge­mein­same Ver­tre­ter und die An­trags­geg­ne­rin­nen so­for­tige Be­schwerde ein­ge­legt. Das OLG hielt die so­for­ti­gen Be­schwer­den für zulässig und wollte ent­spre­chend der Be­rech­nung des ge­richt­li­chen Sach­verständi­gen die Ab­fin­dung auf 65,48 € je Ak­tie fest­set­zen. Es hat die Sa­che aber dem BGH zur Ent­schei­dung vor­ge­legt, da es wis­sen wollte, ob auf den am Stich­tag gel­ten­den IDW S1 2000 oder den IDW S1 2005, ge­ge­be­nen­falls auch ergänzt auf den IDW S1 2008 ab­zu­stel­len sei. Die Pro­ble­ma­tik sei nämlich in der OLG-Recht­spre­chung schon länger um­strit­ten.

Der BGH hielt die so­for­ti­gen Be­schwer­den des ge­mein­sa­men Ver­tre­ters und der An­trags­geg­ne­rin zu 1) für un­zulässig. Die zulässige Be­schwerde der An­trags­geg­ne­rin zu 2) hatte da­ge­gen Er­folg.

Gründe:
Die so­for­tige Be­schwerde des ge­mein­sa­men Ver­tre­ters war un­zulässig, denn im Spruch­ver­fah­ren ist der ge­mein­same Ver­tre­ter der An­trags­be­rech­tig­ten, die nicht selbst An­trag­stel­ler sind, grundsätz­lich nicht be­schwer­de­be­fugt. Auch die Be­schwerde der An­trags­geg­ne­rin zu 1) war un­zulässig, weil sie durch die Fest­set­zung der Ab­fin­dung nicht be­schwert war. Da sie am Ver­fah­ren ma­te­ri­ell nicht be­tei­ligt war, wa­ren auch die Be­schwer­den der An­trag­stel­ler, so­weit sie sich ge­gen diese rich­te­ten, eben­falls un­zulässig und zu ver­wer­fen.

Die Ab­fin­dung war auf 52 € je Ak­tie fest­zu­set­zen. Das ent­sprach dem Be­trag, den die An­trags­geg­ne­rin­nen den Min­der­heits­ak­tionären im ge­richt­li­chen Ver­gleich im An­fech­tungs­pro­zess an­ge­bo­ten hat­ten. We­der der Börsen­kurs der Ak­tie noch der an­tei­lige Un­ter­neh­mens­wert nach dem Er­trags­wert­ver­fah­ren er­ga­ben einen höheren Ab­fin­dungs­be­trag. Der Schätzung des Un­ter­neh­mens­wer­tes mit der Er­trags­wert­me­thode legte der Se­nat den nach dem IDW S1 2005 er­mit­tel­ten Wert von 48,94 € je Ak­tie zu­grunde, nicht den nach dem IDW S1 2000 er­mit­tel­ten Wert.

Der Schätzung des Un­ter­neh­mens­wer­tes im Spruch­ver­fah­ren können auch fach­li­che Be­rech­nungs­wei­sen zu­grunde ge­legt wer­den, die erst nach der Struk­turmaßnahme, die den An­lass für die Be­wer­tung gibt, und dem dafür be­stimm­ten Be­wer­tungs­stich­tag ent­wi­ckelt wur­den. Dem ste­hen we­der der Ge­danke der Rechts­si­cher­heit noch der Ver­trau­ens­schutz ent­ge­gen. Das Stich­tags­prin­zip wird von der Schätzung auf­grund ei­ner neuen Be­rech­nungs­weise nicht ver­letzt, so­lange die neue Be­rech­nungs­weise nicht eine Re­ak­tion auf nach dem Stich­tag ein­ge­tre­tene und zu­vor nicht an­ge­legte wirt­schaft­li­che oder recht­li­che Verände­run­gen, ins­be­son­dere in steu­er­li­cher Hin­sicht ist.

Zwar wird in der Recht­spre­chung ver­tre­ten, dass das Be­wer­tungs­ziel ver­fehlt würde, weil die neuen Me­tho­den in den vom Drit­ten be­zahl­ten Grenz­preis nicht ein­fließen würden. Die Kennt­nis ei­ner fun­da­men­tal­ana­ly­ti­schen Be­wer­tungs­me­thode ist aber nicht Vor­aus­set­zung für das Zu­stan­de­kom­men rich­ti­ger Markt­preise, in die auch an­dere Fak­to­ren und In­for­ma­tio­nen ein­fließen. Mit der fun­da­men­tal­ana­ly­ti­schen Be­rech­nung soll ein Markt­preis theo­re­ti­sch ge­schätzt wer­den, der man­gels ei­nes "ech­ten" Ver­kaufs­falls ge­rade nicht un­mit­tel­bar nach­voll­zo­gen wer­den kann, und nicht ein Markt­preis ge­bil­det wer­den.

Letzt­lich stand auch nicht der Rechts­ge­danke von Art. 170 EGBGB zur An­wen­dung in­ter­tem­po­ra­len Rechts der An­wen­dung ei­ner neuen Be­rech­nungs­weise ent­ge­gen. Denn Be­wer­tungs­me­tho­den sind keine Rechts­nor­men und ähneln ih­nen nicht; erst recht gilt das für von der Wirt­schafts­wis­sen­schaft oder der Wirt­schaftsprüfer­pra­xis ent­wi­ckelte Be­rech­nungs­wei­sen, selbst wenn sie als "Be­wer­tungs­stan­dards" schrift­lich fest­ge­hal­ten sind.

Link­hin­weis:

Der Voll­text der Ent­schei­dung ist auf der Home­page des BGH veröff­ent­licht.

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