Der Sachverhalt:
Der Kläger hatte im Streitjahr 2015 u.a. Einkünfte aus der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften erzielt. Im März erließ das Finanzamt einen auf § 165 Abs. 2 AO gestützten (Änderungs-)Bescheid für 2015, überschrieben mit "Bescheid über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag". Darin wurde ein höherer Veräußerungsgewinn angesetzt. Zudem setzte die Steuerbehörde - erstmals - Zinsen zur Einkommensteuer 2015 fest.
Der zunächst nicht durch einen Steuerberater vertretene Kläger erhob gegen den Bescheid Einspruch und bat um einen persönlichen Termin zur Erörterung. In einem Erörterungstermin im Mai 2018, zu dem der Steuerberater des Klägers telefonisch zugeschaltet war, machte der Kläger dann Ausführungen zur steuerlichen Berücksichtigung des "Earn-out" im Jahr 2015; zugleich übergab er ein Schreiben zu dieser Thematik. Außerdem erhob der Kläger im Juli 2018 erstmals Einwendungen gegen die Verzinsung, die sich auf die Anwendung des § 233a Abs. 2a AO sowie gegen die Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe richteten.
Mit Einspruchsentscheidung vom 25.9.2018 setzte das Finanzamt - nachdem es zuvor einen entsprechenden Verböserungshinweis erlassen hatte - die Einkommensteuer 2015 höher fest. Die Zinsfestsetzung blieb unverändert. Eine Auseinandersetzung mit den gegen die Zinsfestsetzung gerichteten Einwendungen des Klägers unterblieb. Mit Bescheid vom selben Tage lehnte das Finanzamt eine Änderung der Zinsfestsetzung unter Hinweis auf deren Bestandskraft ab. Das Einspruchsschreiben habe sich nicht gegen die Zinsfestsetzung gerichtet.
Das FG stellte mit Zwischenurteil fest, dass der Kläger gegen die Zinsfestsetzung im Bescheid aus März 2018 rechtzeitig Einspruch eingelegt und diesen auch nicht zurückgenommen habe. Es sei irrelevant, dass der Kläger die Zinsfestsetzung im Einspruchsschreiben nicht genannt habe. Der Einspruch gegen einen "Sammelbescheid" sei zwar dahingehend auszulegen, dass er sich nur gegen diejenigen Verwaltungsakte richte, auf die sich die - im Einspruchsschreiben enthaltene - Einspruchsbegründung beziehe. Dies könne im Interesse einer rechtsschutzgewährenden Auslegung aber nicht gelten, wenn der Einspruch zunächst nur fristwahrend - ohne Begründung - erhoben und erst später mit einer Begründung versehen werde. Aus späteren Begründungen lasse sich nicht auf den anfänglichen Willen des Einspruchsführers schließen.
Auf die Revision des Finanzamtes hob der BFH das Zwischenurteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
Gründe:
Die Vorinstanz ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass zur Auslegung einer Einspruchsschrift spätere Begründungen nicht herangezogen werden können.
Der Rechtsprechung sind im Wesentlichen folgende Fallgruppen zur Anfechtung von mit einer Steuerfestsetzung verbundenen Bescheiden zu entnehmen:
- Ficht der Steuerpflichtige miteinander verbundene Bescheide unter Wiedergabe der (amtlichen) Bescheidbezeichnung an, ohne zunächst konkrete Einwendungen gegen einen bestimmten Verwaltungsakt zu erheben, und wendet er sich in einem späteren Begründungsschreiben - ggf. auch nach Ablauf der Einspruchsfrist - (nur noch) gegen einen bestimmten Bescheid, bezieht sich der Rechtsbehelf jedenfalls auch auf diesen Verwaltungsakt.
- Enthält ein seinem Wortlaut nach (zunächst unspezifisch) auf verbundene Bescheide bezogenes Einspruchsschreiben eine Begründung, ist der Gegenstand der Anfechtung anhand dieser Begründung (einengend) auszulegen. Werden später - außerhalb der Einspruchsfrist - Einwendungen gegen einen weiteren verbundenen, aber in der ursprünglichen Begründung nicht angesprochenen Verwaltungsakt erhoben, steht dem die Bestandskraft dieses Bescheids entgegen.
- Richtet sich der Einspruch zunächst ausdrücklich nur gegen einzelne miteinander verbundene Verwaltungsakte und wird er innerhalb der Einspruchsfrist auf einen wei-teren verbundenen Verwaltungsakt ausgedehnt, steht der Anfechtung dieses Bescheids keine Bestandskraft entgegen. Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Erweiterung nach Ablauf der Einspruchsfrist erfolgt.
Die vom FG vorgenommene Auslegung der Einspruchsschrift weist hinsichtlich der Beachtung der anerkannten Auslegungsregeln Mängel auf, die zur Aufhebung der Entscheidung führten. So hatte das FG zu Unrecht kategorisch ausgeschlossen, dass bei der Auslegung einer Rechtsbehelfsschrift spätere Begründungen herangezogen werden können. Das entspricht nämlich nicht den anerkannten Auslegungsregeln, deren Einhaltung der BFH zu prüfen hat. Vielmehr ist das Finanzamt bei der Erforschung des wirklichen Willens des Steuerpflichtigen (§ 133 BGB) nicht auf die Umstände beschränkt, die bei der Einlegung des Einspruchs zutage treten. Es ist im Hinblick auf den Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung ohne Bedeutung, wenn die Konkretisierung eines auslegungsbedürftigen Rechtsschutzbegehrens erst nachträglich - innerhalb oder sogar außerhalb der Einspruchsfrist - erfolgt.
Zwar hatte das FG zutreffend darauf hingewiesen, dass sich der Wille des Klägers zwischen Einlegung und Begründung des Einspruchs geändert haben kann, so dass aus späteren Begründungen nicht immer mit hinreichender Sicherheit auf den maßgeblichen anfänglichen Willen geschlossen werden kann. Dies führt jedoch nicht dazu, dass bei der Erforschung des wirklichen Willens des Einspruchsführers allein auf die Einspruchsschrift abzustellen ist und nachträgliche Äußerungen in jedem Fall außer Betracht bleiben müssen. Bei nachträglich eingereichten Begründungen ist vielmehr stets anhand objektiver Umstände zu prüfen, ob der Kläger die Anfechtung eines bestimmten Verwaltungsakts bereits bei Erhebung des Einspruchs in seinen Willen aufgenommen hatte oder ob sich dieser Wille erst nachträglich gebildet hat. Spätere Erklärungen können insofern bei der Auslegung herangezogen werden, soweit sie (sei es wegen ihres Inhalts oder aufgrund weiterer Indizien) einen Schluss auf den ursprünglichen Willen des Einspruchsführers zulassen. Dies zu prüfen und festzustellen, ist Aufgabe des Tatrichters im Einzelfall. Pauschale Regeln lassen sich dafür nicht aufstellen.
Das FG wird nun im zweiten Rechtsgang unter Berücksichtigung des Verhaltens des Klägers nach Einlegung des Einspruchs, insbesondere unter Heranziehung seiner an das Finanzamt gerichteten Schreiben zur Begründung des Rechtsbehelfs, noch einmal feststellen müssen, ob sich der Einspruch auch gegen die Zinsfestsetzung richtete.