Der Sachverhalt:
Die als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Kläger gaben ihre Einkommensteuererklärung für 2011 in Papierform ab. In der Anlage G erklärten sie für den Kläger in Zeile 8 (Gewinn als Mitunternehmer) einen laufenden Beteiligungsverlust von - 1.306 € ("XY Grundbesitz GmbH aus Z, mit Angabe der dortigen Steuernummer") und in Zeile 23 (Summe der positiven Einkünfte aus Gewerbebetrieb) sowie auf der Rückseite des Formulars in Zeile 40 (Steuerpflichtiger Teil des Veräußerungsgewinns bei Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften) einen steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn von rd. 204.000 €. Der Anlage G waren eine formlose Berechnung des Veräußerungsgewinns sowie Auszüge aus dem notariellen Veräußerungsvertrag beigefügt. Demnach war der Kläger ursprünglich mit 75.000 von 693.600 Aktien an einer AG beteiligt. Aus dem Verkauf und der Abtretung dieser Aktien mit notariellem Vertrag vom 17.8.2011 erlöste der Kläger 540.500 €. In derselben Urkunde, aber nicht vom Kläger, wurde auch ein Geschäftsanteil an einer "XY-GmbH E/F" übertragen. Diese Firmenbezeichnung erscheint sowohl in der Ermittlung des Veräußerungsgewinns als auch auf den Kopien des notariellen Übertragungsvertrags, soweit er vorliegt.
Das Finanzamt berücksichtigte weder den laufenden Verlust noch den Veräußerungsgewinn. Der Einkommensteuerbescheid 2011 enthielt u.a. die Erläuterung: "Ihre erklärten Verluste aus der Grundstücksgemeinschaft / Erbengemeinschaft / Mitunternehmerschaft können erst nach entsprechender Mitteilung des für die Feststellung zuständigen Finanzamts berücksichtigt werden." Auf der Vorderseite der Anlage G ist handschriftlich mit orangefarbigem Filzstift die Zahl -1.306 € in Klammern gesetzt und daneben vermerkt: "ESt4B noch nicht vorliegend." Weitere Bearbeitungsspuren enthalten weder die Anlage G noch die dazu eingereichten Anlagen. Im Januar 2013 änderte das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 2011 gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO und berücksichtigte bei dem Kläger negative Einkünfte aus Gewerbebetrieb von - 1.305 €. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Im Oktober 2015 berichtigte das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 2011 nach § 129 AO und setzte beim Kläger erstmals Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus Veräußerungsgewinnen i.H.v. rd. 204.000 € an. Der dagegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos.
Im Klageverfahren befragte das FG die Sachbearbeiterin der Erstveranlagung (A) schriftlich u.a. zum Zustandekommen des Fehlers und gab den Beteiligten Gelegenheit, ergänzende schriftliche Fragen an die Zeugin zu richten. Zum Termin zur mündlichen Verhandlung lud es zwei weitere Zeuginnen (B und C) prozessleitend unter Angabe des Beweisthemas. Die Zeugin A äußerte sich vor der mündlichen Verhandlung umfangreich zum Beweisthema schriftlich und führte u.a. wörtlich aus:
"Die Anlagen des Stpfl. habe ich in der Eile wohl für Anlagen zu den gewerblichen Beteiligungseinkünften "XY Grundbesitz GmbH aus Z, mit Angabe der dortigen Steuernummer" gehalten und für den späteren Abgleich mit entsprechenden Grundlagenbescheiden in der Akte hinter Anlage G ohne nähere Prüfung abgelegt, weil sodann ohnehin der Wert laut Grundlagenbescheid bindend ist. Es kommt häufig vor, dass Stpfl. umfangreiche Anlagen und Verträge zu ihren Beteiligungseinkünften mit an das Wohnsitzfinanzamt senden, weil sie um die Arbeitsabläufe zwischen Wohnsitzfinanzamt und Feststellungsfinanzamt nicht wissen. Dass meinerseits die Kompletterfassung der Anlage G versäumt wurde, hätte ich bei Sichtung der Anlagen des Steuerpflichtigen bemerken müssen. Insbesondere hätte ich anhand der Betragshöhen wahrnehmen müssen, dass es sich um keine Anlagen und Unterlagen im Zusammenhang mit den Eintragungen in Zeile 8 handeln kann, weil an keiner Stelle der Anlage Bl. 21-26 der Betrag '-1.306 €' aufgezeigt ist. Ich habe auf Bl. 21 wohl nur 'XY-GmbH' beim 'überfliegenden' Lesen wahrgenommen und somit voreilig geschlussfolgert, dass es sich um Dokumente im Zusammenhang mit den Beteiligungseinkünften laut Zeile 8 der Anlage G handeln muss - ein bedauerlicher Flüchtigkeitsfehler."
Auf die schriftliche Aussage der Zeugin A wird im Übrigen Bezug genommen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vernahm das FG auch die Zeuginnen C und B. Die Kläger beantragten anschließend hilfsweise u.a. die persönliche Vernehmung der Zeugin A, weil ihre schriftliche Aussage nicht glaubhaft erscheine und in Widerspruch zu den anderen Zeugenaussagen stehe.
Das FG wies die Klage ohne weitere Beweiserhebung und ohne einen vorherigen rechtlichen Hinweis, dass es seines Erachtens nun auf die Ergebnisse der Beweisaufnahme nicht mehr ankomme, ab. Auf die Revision der Kläger hob der BFH das Urteil auf und gab der Klage statt.
Die Gründe:
Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten i.S.v. § 129 AO sind nur mechanische Versehen wie etwa Eingabe- oder Übertragungsfehler, die ebenso mechanisch, d.h. ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden können. Davon abzugrenzen sind Fehler im Bereich der bewussten Willensbildung. Sie sind Schreib- oder Rechenfehlern nicht ähnlich; ihre Folgen können deshalb nicht nach § 129 Satz 1 AO berichtigt werden. Dazu gehören insbesondere Fehler bei der Auslegung oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm oder bei der Würdigung tatsächlicher Feststellungen. Aber auch Fehler bei der Feststellung des zu ermittelnden Sachverhalts (mangelnde Sachaufklärung) oder der Erfassung des feststehenden Sachverhalts (Nichtbeachtung feststehender Tatsachen; Annahme eines in Wirklichkeit nicht gegebenen Sachverhalts) schließen eine Berichtigung nach § 129 AO aus. Ein mechanisches Versehen muss feststehen. Es genügt nicht, dass es bloß möglich erscheint. Vielmehr muss ein davon abzugrenzender Fehler bei der Willensbildung nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ausgeschlossen sein. Besteht auch nur die ernsthafte (mehr als theoretische) Möglichkeit eines solchen Fehlers, kommt eine Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO nicht in Betracht.
Das mechanische Versehen muss "beim Erlass eines Verwaltungsakts" unterlaufen sein. Der zu berichtigende Bescheid muss dadurch offenbar unrichtig geworden sein. Nach dem Wortlaut der Norm genügt es, wenn sich die Unrichtigkeit bei Offenlegung des aktenkundigen Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen (objektiven) Dritten klar und deutlich offenbart. Unerheblich ist, ob der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit allein anhand des Bescheids und der ihm vorliegenden Unterlagen erkennen konnte. Ist streitig, ob der zu berichtigende Bescheid überhaupt unrichtig ist, muss die Unrichtigkeit als solche auf der Hand liegen. Sie muss offenbar sein, d.h. sie muss sich grundsätzlich ohne weiteres klar und deutlich aus dem Akteninhalt ergeben. Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere durch Beweisaufnahme, kommt insofern allenfalls ergänzend (zur Absicherung) in Betracht, nicht jedoch zur Erforschung des Geschehenen. An der erforderlichen Offenbarkeit fehlt es jedenfalls, wenn die Unrichtigkeit des Bescheids erst durch Abfrage subjektiver Einschätzungen seinerzeit Beteiligter ermittelt werden muss. Deswegen ist die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung nicht als offenbare Unrichtigkeit anzusehen und eine (erforschende) Befragung des Prüfers oder anderer Beteiligter in diesem Zusammenhang untauglich.
Anders ist die Sachlage dagegen, wenn die Unrichtigkeit des Bescheids offenbar ist und feststeht, z.B. weil in ihm - wie im Streitfall - ohne jede Erklärung eine deklarierte Besteuerungsgrundlage fehlt, aber streitig ist, ob beim Erlass des Verwaltungsakts ein mechanisches Versehen oder ein Denkfehler vorgekommen ist und zu der Unrichtigkeit geführt hat. Zur Beantwortung dieser für die Anwendung von § 129 Satz 1 AO ebenso entscheidenden Frage kann nicht allein auf den Akteninhalt abgestellt werden, denn die Qualität der persönlichen Fehlleistung, auf die die Rechtsprechung abstellt, ist üblicherweise in der Akte nicht dokumentiert. Lässt sich anhand des Akteninhalts nicht hinreichend sicher feststellen, ob ein mechanisches Versehen oder ob ein anderer die Anwendung von § 129 Satz 1 AO ausschließender Fehler zu der Unrichtigkeit des Bescheids geführt hat, muss das FG den Sachverhalt umfassend aufklären und ggf. auch Beweis erheben. Es hat dann auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens abschließend zu würdigen, ob die Voraussetzungen von § 129 Satz 2 AO vorliegen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Soweit das FG im Streitfall angenommen hatte, die Veranlagungsstelle könne bei der mechanischen Übertragung der Erklärungsdaten in das Datenerfassungsformular, z.B. durch einen Telefonanruf, gestört worden sein, infolgedessen die Arbeit an unzutreffender Stelle fortgesetzt und die vollständige Auswertung der Anlage G unerkannt unterlassen haben, fehlte es hierzu an tatsächlichen Feststellungen. Denn auch der Anscheinsbeweis muss von feststehenden Anknüpfungstatsachen ausgehen. Hätte das FG eine konkrete Störung im Bearbeitungsablauf festgestellt, hätte es möglicherweise im Wege des Anscheinsbeweises auf die Ursächlichkeit dieser Störung für das streitige Unterlassen schließen können. Ohne solche Anknüpfungstatsachen hatte der Schluss des FG nur eine hypothetische Grundlage. Diese mag zwar nach der Lebenserfahrung plausibel erscheinen, genügt aber nicht für die Anwendung von § 129 Satz 1 AO. Als bloße Hypothese lässt sie ein mechanisches Versehen lediglich möglich erscheinen. Ein Versehen im Bereich der Willensbildung wird dadurch aber nicht ausgeschlossen. Dafür genügt auch nicht die Behauptung des FG, ein anderer Ablauf wäre allenfalls theoretisch denkbar.
Im Streitfall bestand die Vermutung, dass die Bearbeiterin die Anlagen aufgrund der Übereinstimmung der Buchstaben "XY" (wohl) voreilig dem Vorgang "laufender Beteiligungsverlust" zugeordnet und (bewusst) nicht zur Kenntnis genommen hatte, weil sie den Feststellungsbescheid habe abwarten wollen. Diese Hypothese war nach Aktenlage nicht nur theoretisch denkbar, sondern ebenfalls plausibel. Dieser Geschehensablauf würde jedoch eine Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO ausschließen. Zwar wäre auch bei diesem Geschehen die fehlende Übernahme der Angabe aus der Steuererklärung ein unbewusstes Versehen; Anhaltspunkte für eine dahin gehende bewusste Entscheidung gibt es nicht. Darauf kommt es jedoch nicht an, wenn das Finanzamt im selben Zusammenhang den feststehenden Akteninhalt (bewusst) nicht zur Kenntnis nimmt und wenn sicher anzunehmen ist, dass bei gebotener Kenntnisnahme das unbewusste Versehen (fehlende Übertragung) entdeckt und vermieden worden wäre. So war dies jedoch im Streitfall. In diesem Fall ist dann nicht allein das unbewusste Versehen für die Unrichtigkeit des Bescheids ursächlich geworden, sondern zugleich ein die Willensbildung betreffender Fehler bei der (einwandfreien) Erfassung des Akteninhalts. Dies schließt eine Berichtigung des Bescheids nach § 129 Satz 1 AO aus.
Steht nach Aktenlage nicht fest, ob ein mechanisches Versehen oder ob ein anderer die Anwendung von § 129 Satz 1 AO ausschließender Fehler zu einer offenbaren Unrichtigkeit des Bescheids geführt hat, muss das FG den Sachverhalt insoweit aufklären und ggf. auch Beweis erheben. Lässt sich nicht abschließend klären, wie es zu der Unrichtigkeit im Bescheid gekommen ist und stehen sich zwei nicht nur theoretisch denkbare hypothetische Geschehensabläufe gegenüber, von denen einer eine Berichtigung ausschließt, darf nicht berichtigt werden. Eine Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO ist auch ausgeschlossen, wenn das Finanzamt feststehenden Akteninhalt bewusst nicht zur Kenntnis nimmt und wenn sicher anzunehmen ist, dass bei gebotener Kenntnisnahme ein mechanischer Übertragungsfehler bemerkt und/oder vermieden worden wäre.