Vorlagefrage des FG Hamburg zum Entstehungszeitpunkt des Vorsteueranspruchs
In dem Urteilsfall hatte der EuGH zu entscheiden, ob die deutschen umsatzsteuerlichen Regelungen, nach denen das Recht auf Vorsteuerabzug bereits bei Ausführung des Umsatzes entsteht, auch wenn die Umsatzsteuer auf Ebene des Leistungserbringers, der seine Umsätze nach vereinnahmten Entgelten gemäß § 20 UStG und damit erst bei Vereinnahmung des Entgelts versteuert, im Einklang mit dem Unionsrecht stehen.
Im Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße (EuGH-Urteil vom 10.02.2022, Rs. C‑9/20, Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136, DStR 2022, S. 255, Vorinstanz: FG Hamburg, Beschluss vom 10.12.2019, Az. 1 K 337/17, DStR 2020, S. 226) ging es um eine Grundstücksgemeinschaft, die ein ihrerseits angemietetes Grundstück vermietete. Für beide Vermietungen optierten die Beteiligten wirksam zur Umsatzsteuerpflicht und sowohl die Grundstücksgemeinschaft als auch deren Vermieter wählten die Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten, die sogenannte Ist-Versteuerung nach § 20 UStG.
Die Mietzahlungen der Grundstücksgemeinschaft an deren Vermieter wurden teilweise gestundet, sodass in den Jahren 2013 bis 2016 noch Zahlungen für die Jahre 2009 bis 2012 geleistet wurden.
Die Grundstücksgemeinschaft (Mieterin) machte ihr Recht auf Vorsteuerabzug unabhängig vom Zeitpunkt der bezogenen (Miet-)Leistung immer erst in dem Voranmeldezeitraum geltend, in dem sie die Mietzahlungen entrichtete und begehrte in den Jahren 2013 bis 2016 daher den Vorsteuerabzug für Voranmeldungszeiträume zwischen 2009 und 2012. Dieses Vorgehen begründete sie damit, dass aufgrund der für sie geltenden Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten nicht nur die Umsatzsteuer auf ihre Ausgangsumsätze, sondern auch ihr Vorsteuerabzugsrecht erst mit Zahlung der entsprechenden Entgelte entstehe.
Das Finanzamt versagte jedoch den Vorsteuerabzug für die späteren Zeiträume und vertrat die Auffassung, dass das Recht auf Vorsteuerabzug bereits mit der Ausführung des Umsatzes, hier der monatsweisen Überlassung des Grundstücks, entstanden sei. Daher hätte der jeweilige Vorsteueranspruch auch bereits zu diesen Zeitpunkten geltend gemacht werden müssen. Für die betroffenen Zeiträume in 2009 bis 2012 war teilweise bereits Festsetzungsverjährung eingetreten, so dass nach Auffassung des Finanzamtes das Recht auf Vorsteuerabzug insoweit final zu versagen war.
Hinweis: Die Argumentation des Finanzamts entspricht der geltenden Verwaltungsauffassung. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG kann der Unternehmer die gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer für eine Lieferung oder Leistung abziehen, vorausgesetzt er verfügt über eine ordnungsgemäße Rechnung. Damit setzt der Vorsteuerabzug nach bisheriger Lesart den Leistungsbezug und das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechnung voraus (vgl. A 15.2 Abs. 2 Satz 2 UStAE). Hierbei ist unbeachtlich, ob der Leistende seine Umsätze gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG nach vereinbarten oder gemäß § 20 UStG nach vereinnahmten Entgelten berechnet. Hinzu kommt, dass der Leistungsempfänger hiervon in der Regel keine Kenntnis haben dürfte, da ein Hinweis auf der Rechnung „Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten“ entsprechend der Vorgabe in Art. 226 Nr. 7a MwStSyStRL im nationalen Recht bisher nicht umgesetzt wurde.
Ebenfalls wird nicht danach differenziert, ob der Leistungsempfänger seine Umsätze nach vereinnahmten Entgelten (sog. Ist-Versteuerung) berechnet (A 15.2 Abs. 2 Satz 3 UStAE).
Handelt es sich bei dem Leistenden um einen sog. Ist-Versteuerer führen diese Regelungen zu einem zeitlichen Auseinanderfallen von Umsatzsteuerverbindlichkeit beim Leistenden und Vorsteuerforderung beim Leistungsempfänger - im Streitfall sogar über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Während der Leistende die Umsatzsteuer erst bei Vereinnahmung abführen müsste, könnte der Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug grundsätzlich schon bei Leistungsbezug begehren.
Das Finanzgericht Hamburg hatte Zweifel, ob diese Regelungen im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorschriften stehen und wandte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH.
EuGH erteilt der nationalen Auslegung eine Absage
In seinem Urteil führt der EuGH zunächst aus, dass nach Art. 167 MwStSystRL das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer auf die entsprechende abziehbare Steuer entsteht. Dies ergebe sich klar und unzweideutig aus dem Wortlaut des Art. 167 MwStSystRL, in dem auf die Entstehung der Steuer und gerade nicht auf den Zeitpunkt der Lieferung oder Dienstleistung abgestellt wird.
Somit entsteht der Vorsteuerabzug nach dem unionsrechtlichen Verständnis in Fällen, in denen der Leistende die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet (sog. Ist-Versteuerer) erst, wenn der Leistungsempfänger das Entgelt entrichtet, sodass Umsatzsteueranspruch und Vorsteuererstattungsanspruch zum selben Zeitpunkt entstehen.
In dem Urteilsfall entsteht die Vorsteuerabzugsberechtigung also erst mit Zahlung der Mieten.
Hinweis: Ausschlaggebend hierfür ist jedoch - entgegen der Auffassung der Grundstücksgemeinschaft (Mieterin) - der Umstand, dass die Umsatzsteuer aufgrund der Ist-Besteuerung des Leistenden erst mit Zahlung entsteht. Dass der Leistungsempfänger ebenfalls der Ist-Besteuerung unterliegt, ist unbeachtlich.
Praktische Auswirkungen auf alle vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmer
Die Entscheidung des EuGH hat grundsätzliche Bedeutung, denn sie betrifft in ihren Auswirkungen nicht primär sog. Ist-Versteuerer in ihrer Rolle als Leistende, sondern deren Leistungsempfänger - und zwar auf Basis des vorliegenden EuGH-Urteils unabhängig davon, ob diese ihrerseits sog. Soll- oder Ist-Versteuerer sind. Damit können grundsätzlich alle Unternehmer betroffen sein, die Leistungen im Inland beziehen.
Auch wenn die Folgeentscheidung des FG Hamburg und die Reaktion der Finanzverwaltung noch ausstehen, ist damit zu rechnen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug bei Leistungsbezug von sog. Ist-Versteuerern zukünftig von der Zahlung an diese und nicht mehr vom Leistungszeitpunkt abhängen wird.
In der Praxis wäre dies aktuell nicht umsetzbar, da der Leistungsempfänger in der Regel keine Kenntnis darüber haben dürfte, ob der Leistende seine Umsatzsteuer nach vereinbarten oder vereinnahmten Entgelten berechnet.
Dies könnte über eine Ergänzung der Rechnungspflichtangaben in §§ 14, 14a UStG, bspw. um einen Hinweis auf der Rechnung „Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten“ entsprechend der unionsrechtlichen Vorgaben zur sog. Kassenbuchführung in Art. 226 Nr. 7a MwStSyStRL gelöst werden, die die gemeinschaftsrechtliche Grundlage für die Ist-Versteuerung nach § 20 UStG bildet. Auch insoweit ist mit einer Gesetzesanpassung zu rechnen.
Hinweis: Aktuell besteht aufgrund der gesetzlichen Regelung und der anderslautenden Verwaltungsauffassung im UStAE kein unmittelbarer Handlungsbedarf für potenziell betroffene Leistungsempfänger. Risiken aufgrund drohender Festsetzungsverjährung sollten nicht bestehen, da die Vorsteuerabzugsberechtigung allenfalls in spätere, nicht aber in frühere Veranlagungszeiträume fallen sollte.
Gleichwohl sollte die weitere Rechtsentwicklung beobachtet werden, um ggf. erforderliche Anpassungen im ERP-System sowohl auf Seiten des Leistenden als auch auf Seiten des Leistungsempfängers rechtzeitig vornehmen zu können. Wir werden Sie über die weitere Rechtsentwicklung auf dem Laufenden halten.