Wir alle beobachten die Entwicklungen intensiv. Einer, der ganz nah dran ist an den Austrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich, ist Gunther Krichbaum, Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der EU. Eva Rehberg, Partnerin bei Ebner Stolz in Hamburg, spricht mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten über die aktuellen Entwicklungen, welche Erfahrungen er im Verhandlungsmarathon gemacht hat und was in Sachen Brexit möglicherweise noch auf die Wirtschaft zukommt.
Zunächst eine persönliche Frage. Wie geht es Ihnen und wie sehr bestimmt das Thema Brexit den beruflichen Tagesablauf derzeit? Ich kann mir vorstellen, dass gerade jetzt in der „heißen Phase“ für alle Beteiligten ein unglaubliches Pensum zu bewältigen ist.
Persönlich geht es mir gut, aber ich muss schon zugeben, dass das Thema Brexit Ressourcen in Anspruch nimmt, die ich gerne in andere Themen investieren würde und die für die Zukunftsfähigkeit der EU von großer Bedeutung sind. Beispielsweise wie behaupten wir als EU unseren Standort in einer globalisierten Wirtschaft, wie können wir die Themen Künstliche Intelligenz, Forschung, Innovation vorantreiben und damit wettbewerbsfähiger werden? Das Thema Klimawandel brennt uns allen unter den Nägeln und wir müssen unser Verhältnis zu den USA, Russland und China neu ausrichten, vom Verhältnis zu unserem Nachbarkontinent Afrika ganz zu schweigen. Das zeigt: Wie auch immer das Verhältnis zu Großbritannien am Ende des Jahres aussehen mag - hoffentlich konstruktiv und positiv! - die Herausforderungen sind eben auch andere.
In welcher Atmosphäre finden die Verhandlungen statt? Für uns als außenstehende Beobachter ist kaum nachvollziehbar, wie dieses anstrengende Ringen um die Einzelheiten abläuft.
Ich hätte mir schon gewünscht, dass die britischen Regierungen die Zeit insgesamt konstruktiver genutzt hätten. Jedem ist noch das Hin und Her vor der Ratifizierung des Austrittsabkommens im britischen Unterhaus in Erinnerung. Zugegeben: Die Verhandlungen waren schon beim Austrittsabkommen extrem kompliziert- als Stichwort sei nur Nordirland genannt - und sie sind es beim Folgeabkommen geblieben. Hier war ursprünglich vorgesehen, dass wir nicht nur über die zukünftigen Handelsbeziehungen sprechen, sondern auch über eine Sicherheitspartnerschaft. Leider hat sich Boris Johnson dann anfangs geweigert, über dieses Thema überhaupt nur sprechen zu wollen. Hier wurde viel Zeit vergeudet, denn auch in Zukunft ist eine Zusammenarbeit in polizeilichen und justiziellen Fragen wichtig. Fakt ist: Unsere Hand bleibt ausgestreckt.
Ich selbst berate mit meinem Team ja Mandanten in allen Bereichen des internationalen Warenverkehrs und der Energiesteuer. Insofern erleben wir jeden Tag, wie sehr der Brexit Einfluss auf die Prozesse der Unternehmen hat, die wirtschaftliche Beziehungen zu UK haben. Welchen Stellenwert haben die Aspekte des Warenaustausches zwischen der EU und UK in den Verhandlungen?
Der freie Warenaustausch zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ist von einer überragenden Bedeutung. Ca. 46 % des britischen Exports gehen in die Länder der Europäischen Union. Ganze Lieferketten, Just-in-time Produktionen, aber auch die Finanzdienstleistungswirtschaft - da ist der Clearing-Sektor noch die kleinste Baustelle - sind vom Binnenmarkt und damit einem barrierefreien Handel abhängig. Aber nicht nur in diesen Fragen ist eine EU-Mitgliedschaft lukrativ. Weltweit unterhält die EU ca. 130 Freihandelsabkommen mit anderen Ländern. Wer also aus der EU aussteigt, muss diese neu verhandeln. Hieran wird zugleich deutlich: Wenn die Mitgliedschaft in der EU eine Win-Win-Situation ist, kann das Ausscheiden aus ihr nicht dasselbe sein.
Die betroffene Wirtschaft befürchtet zum einen eine Steigerung der Kosten durch die Erhebung von Zöllen und zum anderen die Verlangsamung von Transporten in beide Richtungen. Just-in-time Geschäfte scheinen, zumindest in den ersten Monaten des neuen Jahres, unmöglich. Wie reagiert die Politik darauf und welche Maßnahmen zu Abschwächung dieser Folgen sind geplant?
Das kommt auf das Ergebnis der Verhandlungen an, die - Stand Redaktionsschluss - noch laufen. Sollte es aber am Ende tatsächlich zu keinem Ergebnis kommen, gebe ich Ihnen Recht. Die Handelsbeziehungen zu Großbritannien fielen auf WTO-Niveau zurück und zeitraubende Kontrollen an den Grenzen wären die Folge. Selbst kurzfristig einzuleitende Notfallmaßnahmen, sog. contingencies, über die man in Brüssel durchaus spricht, könnten diese langfristigen Folgen nicht verhindern. Und selbst wenn es doch noch irgendwie und irgendwann zu einem Freihandelsabkommen kommt: Grenz- bzw. Warenkontrollen würden gleichwohl stattfinden, nur zur Erhebung von Zöllen käme es dann (fast) nicht.
In den Medien wird häufig von einem Freihandelsabkommen gesprochen, das zwischen der EU und UK abgeschlossen werden soll. Ziel soll u. a. sein, die Zollbelastungen so weit wie möglich zu reduzieren. In anderen Fällen, zuletzt z. B. mit Japan und Kanada, haben die Verhandlungen über ein solches Abkommen mehrere Jahre gedauert. Wie ist Ihre Einschätzung, wird es ein derartiges Abkommen geben und wann können wir damit rechnen?
Weil die Verhandlungen über derlei Abkommen kompliziert sind, hatte die EU ja Großbritannien eine Übergangsfrist bis zum 31.12. dieses Jahres gewährt. Trotz des Austritts des Vereinigten Königreichs am 31.1.2020 blieb deshalb für Bürger und Wirtschaft zunächst alles beim Alten. Tatsächlich glauben deshalb auch viele Briten, dass alles nur halb so schlimm ist, denn noch spüren sie die Wirkungen des Brexit nicht. Großbritannien hätte nun bis zum 1.7.2020 die Möglichkeit gehabt, diese Übergangsfrist zu verlängern, was Boris Johnson allerdings ablehnte. Das ist auch der Grund, warum die Zeit jetzt sehr knapp wird, denn am Ende muss das Europäische Parlament ein solches Abkommen auch ratifizieren.
Aber daran würde es doch nicht scheitern, oder?
Als Parlamentarier insgesamt werden wir uns die Inhalte sehr genau anschauen. So ist es auch uns im Europaausschuss des Deutschen Bundestages wichtig, dass ein solches Abkommen eine faire Handelspartnerschaft beinhaltet. Und da geht es ans Eingemachte: Wir werden es nicht hinnehmen können, dass die britische Regierung ihre Unternehmen mit staatlichen Beihilfen oder der Absenkung von Produktionsstandards in einer Weise unterstützt, die Unternehmen in der EU versagt bleiben müssen. Das würde den fairen Wettbewerb untergraben. Wer deshalb den Zugang in unseren Binnenmarkt haben will und alle seine Vorteile in Anspruch nehmen möchte, muss auch bestimmte Spielregeln akzeptieren. Sonst würden wir unserer eigenen Wirtschaft massiven Schaden zufügen.
Eine weitere Sorge vieler Unternehmen ist das Verhältnis von UK und Irland in Bezug auf den ungehinderten Warenverkehr. Welche Maßnahmen sind hier angedacht, um einen Handel möglichst reibungslos (weiter) laufen zu lassen?
Diese Frage kann nicht ohne den Blick auf die besonderen Beziehungen zwischen Irland und Nordirland beantwortet werden. Im Rahmen des Austrittsabkommens war das einer der wichtigsten und schwierigsten Punkte. Viele von uns wissen noch um den damaligen Bürgerkrieg, der über 3.000 Menschen das Leben kostete und erst mit dem Karfreitagsabkommen 1998 sein Ende fand. Die offenen Grenzen zwischen Irland und Nordirland im Rahmen der Mitgliedschaft in der EU haben nachhaltig zum Frieden beigetragen. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU galt es, eine harte Außengrenze der EU zwischen diesen beiden Staaten unbedingt zu vermeiden. Deshalb einigte man sich bei Warentransporten von Großbritannien nach Nordirland auf Kontrollen auf hoher See, weil sie dort niemanden stören und keine klassische Grenzkontrolle stattfände. Dies ist übrigens schon heute gängige Praxis, um das Einschleppen von Tierseuchen zu unterbinden. Die vorgenannte Lösung wurde dann auch Vertragsbestandteil. Boris Johnson meinte nun aber mit einem Gesetz, dem sog. Internal Market Bill, das Ganze wieder aushebeln zu müssen. Wie es weitergeht, ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen. Das Oberhaus jedenfalls will diesen Irrweg nicht mitgehen, denn das würde den Bruch internationaler Verträge bedeuten. Damit würde Großbritannien seinen Ruf als ehrlicher Partner gründlich verspielen, was sicher auch eine schwere Hypothek für den Abschluss weiterer Freihandelsabkommen mit anderen Staaten wäre. Der neugewählte US-Präsident Biden hat im Wahlkampf jedenfalls immer deutlich gemacht, dass für ihn das Karfreitagsabkommen höchste Priorität genießt.
Transporte von und nach UK waren schon in der Vergangenheit durch die Insellage erschwert und es gab immer ein paar Knotenpunkte oder auch Nadelöhre. Gibt es Maßnahmen, die helfen, die logistischen Herausforderungen ab 2021 einzudämmen?
Da kann ich leider keine Hoffnungen machen. Es ist ja genau der große Vorteil einer EU-Mitgliedschaft, dass mit der Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreizügigkeit nicht nur tarifäre, sondern eben auch non-tarifäre Handelshemmnisse beseitigt wurden. Es wird also nur darum gehen können, die negativen Auswirkungen des Brexit nach besten Möglichkeiten zu reduzieren. Dazu gehört bspw., dass sich Unternehmen allerspätestens jetzt mit allen Abfertigungs- und Zollformalitäten auseinandersetzen, steuerliche Implikationen berücksichtigen, ihre Unternehmensstrategie neu ausjustieren müssen etc. Hier ist es meines Erachtens unerlässlich, sich der Expertise von Spezialisten zu bedienen. Die Dinge sind einfach zu kompliziert.
Zu Beginn der Brexit Verhandlungen gab es die große Sorge, es könne in der EU Nachahmer-Staaten geben, die ebenfalls mit dem Gedanken spiele,n die EU zu verlassen. Wir sind jetzt viel weiter, haben viel gelernt; was ist Ihre persönliche Einschätzung, müssen wir uns weiterhin Sorgen machen, dass andere Länder dem Beispiel UKs folgen?
Nein. Manchmal sind schlechte Beispiele doch noch für etwas gut. Vor allem rechtspopulistische Parteien hatten sich den Austritt ihres Landes aus der EU auf die Fahnen geschrieben, aber die sind in diesem Punkt ziemlich kleinlaut geworden. Auch sie müssen mit ansehen, wie britische Firmen die Insel in Richtung Kontinentaleuropa verlassen, weil sie auf den Binnenmarkt angewiesen sind. Das kostet Tausende von Jobs. Hinzu kommt in Großbritannien noch ein anderes Phänomen: Schottland war schon beim damaligen Brexit-Referendum mehrheitlich für Remain - und sie sind es immer noch! Das hat dem Drang nach Unabhängigkeit erneuten Auftrieb gegeben. Beim Beobachten der Szenerie werden auch die Menschen in Wales zunehmend nervös. All diese Wirkungen wurden bei dem Referendum völlig unterschätzt.
Auch wenn wir mitunter so manches an der Europäischen Union auszusetzen haben, so ist sie gerade auch für die junge Generation unerlässlich und zukunftssichernd. Hier gilt das afrikanische Sprichwort: „Wenn Du schnell gehen willst, dann gehe alleine. Aber wenn Du weit gehen willst, dann gehe gemeinsam!“
Hinweis
Wie die Verhandlungen auf der Zielgeraden laufen und was ab 1.1.2021 gilt, lesen Sie in unserem Brexit-Ticker.