Grundzüge der Sollbesteuerung
Unternehmer schulden Umsatzsteuer auf ihre Leistungen regelmäßig bereits im Zeitpunkt der Leistungserbringung – und damit regelmäßig unabhängig von Rechnungsstellung und Zahlungseingang (sog. Sollbesteuerung). Dies führt oftmals zu einer Vorfinanzierung der Umsatzsteuer durch den leistenden Unternehmer.
Bisherige Rechtsprechung zur Sollbesteuerung
Im Kontext mit der Sollbesteuerung ließ der BFH bereits im Jahr 2013 eine Steuerberichtigung bei Leistungserbringung aufgrund von Uneinbringlichkeit zu, wenn der Entgeltanspruch auf Basis eines vertraglichen Einbehalts zur Absicherung von Gewährleistungsansprüchen über zwei bis fünf Jahre nicht verwirklicht werden kann. Die Finanzverwaltung nahm diese Rechtsprechung in ihren Umsatzsteueranwendungserlass (Abschnitt 17.1 Abs. 5 S. 3) zwar auf, setzt jedoch hieran enge Bedingungen (z. B. wenn keine Möglichkeit der Absicherung durch eine Bankbürgschaft gegeben ist).
Welcher Sachverhalt lag dem Vorlagebeschluss zu Grunde?
In dem nunmehr vom EuGH zu beurteilenden Fall erhielt eine Vermittlerin von Profifußballspielern von den Vereinen Provisionen für erfolgreiche Vermittlungen. Die Auszahlung erfolgte ratenweise über die Laufzeit und in Abhängigkeit des Bestehens der Spielerverträge, teilweise erst drei Jahre nach erfolgreicher Vermittlung (= Zeitpunkt der Leistungserbringung). Damit musste die Vermittlerin ihre im Streitjahr 2012 erbrachten Vermittlungsleistungen auch insoweit bereits vollständig in 2012 versteuern, obwohl sie Entgeltbestandteile für die Vermittlungen vertragsgemäß erst in späteren Zeiträumen beanspruchen konnte.
Wie argumentiert der BFH?
Der BFH zweifelt in seinem Vorlagebeschluss an der bislang uneingeschränkt angenommenen Pflicht zur Vorfinanzierung der Umsatzsteuer durch den zur Sollbesteuerung verpflichteten Unternehmer. Dabei sind nach Auffassung des BFH im Hinblick auf die Sollbesteuerung folgende Aspekte zu berücksichtigen:
- Der Unternehmer fungiert als Steuereinnehmer des Staates.
- Das System der Umsatzsteuer basiert auf dem Grundsatz der Proportionalität, wonach die Umsatzsteuer proportional zum Preis der Lieferungen und Leistungen anzuwenden ist.
- Zwischen Ist- und Sollversteuerung besteht eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, die gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz verstößt.
- Ist eine Vorfinanzierung öffentlicher Gelder durch den Unternehmer gerechtfertigt oder darf die Steuer nicht erst entstehen, wenn das Entgelt für die Leistung unbedingt geschuldet wird oder gegebenenfalls sogar fällig ist?
- Ist das Entgelt gegebenenfalls sogar nur der Betrag, der im Leistungszeitpunkt bereits fällig bzw. nicht mehr ungewiss ist?
- Liegt bei erst nach zwei Jahren fälligem Entgelt eine Uneinbringlichkeit vor, so dass die Umsatzsteuer bereits im Leistungszeitpunkt berichtigt werden kann?
Welche Fälle sind betroffen? Was ist zu tun?
Dem Vorlagebeschluss kommt in der Praxis eine große Bedeutung zu. Die darin aufgeworfenen Fragen beziehen sich in erster Linie auf bedingte Vergütungsansprüche. Darüber hinaus können die Fragen aber auch bei befristeten Zahlungsansprüchen, wie etwa beim Ratenverkauf im Einzelhandel oder bei einzelnen Formen des Leasings von Bedeutung sein. Denn auch hier besteht gegenwärtig für den der Sollbesteuerung unterliegenden Unternehmer die Pflicht, die Umsatzsteuer für die Warenlieferung bereits mit der Übergabe der Ware vollständig abführen zu müssen. Dies gilt nach bisheriger Praxis auch dann, wenn er einzelne Ratenzahlungen erst über eine Laufzeit von mehreren Jahren vereinnahmen kann.
Mit seinem Vorlagebeschluss weitet der BFH seinen bereits entschiedenen und von der Finanzverwaltung übernommenen Fall der Uneinbringlichkeit bei vertraglichen Einbehalten zur Absicherung von Gewährleistungsansprüchen allgemein aus.
Steht bereits fest, dass das Entgelt erst über einen Zeitraum von mehreren Jahren vereinnahmt werden wird, könnten betroffene Unternehmer mit der Argumentation des BFH von einer teilweisen Uneinbringlichkeit im Leistungszeitpunkt ausgehen. Wurde Umsatzsteuer bereits im Leistungszeitpunkt angemeldet und abgeführt, wäre hierfür ein Änderungsantrag unter Rückforderung der Umsatzsteuer zu stellen. Lehnt die Finanzverwaltung diesen ab, müsste Einspruch eingelegt und das Ruhen des Verfahrens unter Hinweis auf die anhängige Entscheidung beim EuGH beantragt werden.
Eine unmittelbare Anmeldung einer verringerten Umsatzsteuer im Leistungszeitpunkt sollte hingegen sorgsam abgewogen werden, da insoweit das Risiko von Nachzahlungszinsen entsteht, falls der EuGH der Auffassung des BFH nicht folgt. Zudem wäre dieses Vorgehen wohl dem Finanzamt gesondert mitzuteilen (im Zweifel über die neuen Kennzahlen 22/23 in der Umsatzsteuervoranmeldung). Im Übrigen ist die weitere Rechtsentwicklung bis hin zur Entscheidung des EuGH zu beobachten.