Über die Erfahrungen aus der plötzlichen Umstellung auf die Online-Wissensvermittlung und die Lehren, die Universitäten, Hochschulen und sonstige (Weiter-)Bildungseinrichtungen daraus für die künftige Entwicklung ihrer Methoden zur Wissensvermittlung ziehen können, sprechen wir mit Prof. Dr. Wolfgang Kessler, Direktor des Instituts für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Business and Law an der Universität Freiburg.
Herr Prof. Dr. Kessler, wie haben Sie persönlich zu Beginn der Corona-Pandemie die Schließung der Universitäten für den Präsenzbetrieb und den Wechsel zur Online-Lehre erlebt? Was war für Sie persönlich die größte Herausforderung?
Sie wissen ja, dass ich zu den Online-Pionieren in Deutschland gehöre und bereits für die Körperschaftsteuerreform 2000 ein erstes größeres Online-Modul geschrieben habe. Als Partner einer Big Four Prüfungsgesellschaft hatte ich wenig später auch die ersten Webinare in Deutschland eingeführt und nach meinem Ausscheiden mit einigen Mitarbeitern das Online-Start-Up „TaxAcademy“ gegründet. Hier besteht auch die eine oder andere Zusammenarbeit mit Ebner Stolz. Online-Unterricht ist mir also alles andere als fremd.
Dennoch war die Umstellung auf 100 % Online eine Herausforderung und alles andere als ein Spaziergang. Der erste Studiengang, den wir ganz auf Online-Unterricht umstellen mussten, war unser Weiterbildungsstudiengang Master of Arts Taxation, der ja auch bereits viele Online-Phasen aufweist, die allerdings normalerweise durch Präsenzphasen in Freiburg eingerahmt werden. Da wir schon kurz vor der Pandemie mit Zoom experimentiert haben, war die technische Umstellung sehr einfach. Es ging daher vor allem darum, ein didaktisch sinnvolles Konzept für einen ganzen Tag Online-Unterricht zu finden. Wir haben das einfach so kurzweilig wie möglich gestaltet. Immer im Wechsel von Plenum zu Kleingruppen, der Bearbeitung von Fällen und Präsentation im Plenum. Die Studierenden waren davon sehr angetan und wir werden sicher in Zukunft den Online-Anteil noch stärker erhöhen.
Welche Lehrmethoden haben Sie in dieser Zeit an der Universität in der Lehre erprobt und welche Methoden konnten sich nun, nach über einem Jahr Pandemie und geschlossenen Hochschulbildungseinrichtungen, durchsetzen?
Im grundständigen Studium arbeiten wir schon seit mehreren Jahren mit einem kleineren Online-Anteil in Form einer selbst entwickelten LernApp, bestehend aus Karteikarten und Wiederholungsfragen zur Aneignung und Verfestigung des Wissens, und Online-Modulen mit vielen Beispielen, Grafiken, Übersichten und Testfragen. Das dient der Vor- und Nachbereitung des Präsenzunterrichts. Für die grundständige Lehre haben wir ein Konzept aus kurzen Online-Vorlesungsblöcken im Umfang von ca. 30 Minuten, Einsendeaufgaben und Übungen, in denen die Aufgaben gemeinsam gelöst werden, entwickelt. Hinzu kommen Online-Fragestunden. Um den Anreiz für die Einsendeaufgaben zu erhöhen, kann man damit auch schon Klausurpunkte sammeln. Wichtig ist ferner noch, dass alle Online-Elemente genau eine Woche lang zugänglich bleiben. Das ist ja ganz ähnlich wie die klassischen Vorlesungen, die auch nicht immer wieder wiederholt werden können und schützt die Studierenden vor dem sog. Bulimie-Lernen oder einer Art „Serienmarathon“ (Binge Watching) kurz vor der Klausur.
Gibt es innovative digitale Lehrmethoden und neue Methoden zur Wissensvermittlung, die Sie ggf. auch über die Pandemie hinaus beibehalten und ggf. weiterentwickeln möchten?
Ich denke, wir werden auch weiterhin den Online-Anteil zur Vor- und Nachbereitung erhöhen und sicher weiterhin Online-Sprechstunden anbieten. Nicht alle Studierenden wohnen schließlich in Freiburg und können so Wege sparen, vor allem aber sich den Stoff in ihrem individuellen Lerntempo aneignen.
Welche Chancen kann das Remote-Lernen unterstützt durch neue Lehrangebote für die Studierenden bieten? Und welche besonderen Herausforderungen gibt es dabei auf der anderen Seite?
Für die Weiterbildung und damit eben auch für die Weiterbildungsstudiengänge sind Remote-Angebote ideal. Dort haben wir es mit Berufstätigen zu tun, die sich freuen, wenn sie Wegezeiten sparen, dann lernen können, wenn es für sie persönlich am besten passt – denken Sie z. B. an junge Familien, Teilzeitarbeitende, Frühaufsteher und Nachteulen. Und - wie schon gesagt – Apps und kurze Online-Module sind immer eine gute Ergänzung, um den Stoff z. B. in der Bahn, auf Reisen oder in kurzen Pausen zu wiederholen. Wichtig ist aber auch, dass wir schon sehr frühzeitig gelernt haben, dass alle Lernenden auch immer ein Skript brauchen, das sie ausdrucken können, in dem sie unterstreichen oder Notizen an den Rand schreiben können. Nur vor dem Bildschirm lernen, macht keine Freude. Es kommt auf den Mix aus verschiedenen Lernformen, Lernformaten und Aufgabentypen an. Abwechslung erhöht die Aufmerksamkeit, den Lernerfolg und die Freude am Lernen. Ein motivierender Medienmix, der Spaß macht: Skript, Online-Trainings, App.
Wie sind Ihre Erfahrungen mit der digitalen Lehre im Bereich der berufsbegleitenden Weiterbildung, z. B. im Rahmen des Master of Arts Taxation, bei dem Sie an der Universität Freiburg in Kooperation mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg ein Programm zur Doppelqualifikation (Master mit integrierter Ablegung des Steuerberaterexamens) anbieten?
In den Weiterbildungsstudiengängen Master of Arts Taxation und MBA International Taxation hatten wir schon immer eine Mischung aus Präsenz- und Online-Lehre. Einwöchige Präsenzphasen, immer von donnerstags bis montags, wechseln mit längeren Online-Phasen ab. Im Master of Arts Taxation haben wir zwei Starttermine und bieten die Präsenzphasen nicht nur in Freiburg, sondern auch in Frankfurt an. In Zukunft werden wir sicher auch einen reinen Online-Studiengang anbieten, weil sehr viele Studierende genau das suchen.
Gibt es hier möglicherweise aufgrund des berufsbegleitenden Studiencharakters besonderes Potenzial, auch künftig die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen und selbstständiges und zeitunabhängiges Lernen zu ermöglichen?
Digitale Angebote ermöglichen es, von dem verstaubten und langweiligen Frontalunterricht wegzukommen. Online-Konzepte erlauben es, dann zu lernen, wenn es in den individuellen Tagesablauf passt. Es gibt keine festen Termine und alle Materialien sind on demand verfügbar. So können die Teilnehmenden die Kurse in ihrem Tempo bearbeiten und lernen, wann und wo sie wollen. Diese Konzepte ermöglichen die Vereinbarung von Familie und Beruf. Digitale Lernformate lassen sich viel flexibler in den Arbeits- und Lernalltag integrieren. Diese Online-Angebote stehen jederzeit bereit – immer dann, wenn sie benötigt werden. Online-Lernen fördert die Eigenständigkeit, man kann seinen Wissensaufbau anhand seines Lernfortschrittes online sehen.
Man kann individuelle Schwerpunkte setzen. Bei Themengebieten, die einem schwerer fallen, kann man diese so oft bearbeiten, wie man will und sich so viel Zeit nehmen, wie man benötigt.
Wie wird post Corona das Studium in der Zukunft aussehen - kehren alle Studierenden wieder in die Alma Mater zurück oder werden Teile des Studiums weiterhin (unterstützend) remote stattfinden?
Im grundständigen Studium werden wir sicher wieder überwiegend, aber eben auch nicht nur, Präsenzunterricht haben. In der Weiterbildung werden wir vermehrt und alternativ auch reine Online-Angebote bereitstellen.
Könnte Ihrer Auffassung nach auch die Steuerberater-Vorbereitung zukünftig durch digitale Angebote erweitert werden? Und: In welcher Form könnte das stattfinden?
Bei der Vorbereitung auf die Steuerberaterprüfung bieten sich – je nach Lerntyp - digitale Angebote an. Daher bietet die „TaxAcademy“ seit diesem Frühjahr einen reinen Online-Steuerberaterkurs an. Neben dem Medienmix, der das Lernen erleichtert, bieten auch die technischen Möglichkeiten einige Vorteile. Lernhefte werden den Lernenden noch ganz klassisch zugeschickt. Darüber hinaus finden sie alles, was sie benötigen auf der Lernplattform: Musterlösungen zur Selbstkorrektur, ein Bewertungstool sowie Video-Klausurbesprechungen. Zudem stellen wir den Teilnehmenden einen Gesamtüberblick über ihre Klausurleistungen zur Verfügung. Damit sehen sie auf einen Blick, welche Klausuren sie nochmals überarbeiten sollten und wo noch Wissenslücken bestehen.
Eine Online-Klausurkorrektur ermöglicht zudem eine sichere und sehr schnelle Möglichkeit, Feedback zu bekommen. Die Lernenden laden ihre geschriebene Klausur auf einer Lernplattform hoch und nach drei Tagen erhalten sie die korrigierte Klausur auf diesem Wege zurück. So hat man die Klausur noch frisch in Erinnerung und kann sich sofort mit seinen Gedankengängen und Lösungsansätzen auseinandersetzen.
Onlinegestützte Lernformate ermöglichen maximale Flexibilität. Man ist an kein starres Zeitgerüst gebunden. Fahrzeiten fallen weg, was allein schon ein wichtiges Argument sein kann. Jeder Lernende kann dann lernen, wann es in den individuellen Tagesplan am besten passt, und es entfallen feste Termine am Wochenende.
Auch die Pausen können individuell gewählt werden, da es keine festen Pausenzeiten gibt. So kann jeder weiter lernen, wenn er/sie gerade Zeit hat. Der Stoff kann so oft wiederholt werden, wie man das möchte.
Das Ganze ist aber nichts für alle Steuerberaterprüflinge, sondern nur für diejenigen, die sich gut selbst motivieren können. Es gibt also Lerntypen, die einen genau vorgegebenen Zeitrahmen brauchen. Es ist gut, dass es viele verschiedene Angebote für die Vorbereitung auf die Steuerberaterprüfung gibt, da kann sich jeder das heraussuchen, was zu der Lernpersönlichkeit gut passt.
Wenn wir die Beratungsunternehmen betrachten: wie sieht nach Ihrer Auffassung in der Zukunft die fachliche Ausbildung in der Steuerberatung aus? Welche Weiterentwicklungen wird es vor allem in der eingesetzten Methodik geben?
Gerade für die Young-Professionals sehe ich sehr gute Chancen in einem Online-Onboarding-Programm. Je nach Vorbildung beginnt jeder Berufsneuling mit unterschiedlichem Vorwissen. Das kann durch ein individuell maßgeschneidertes Auffrischungs- oder Grundlagen-Lernprogramm ausgebaut und schnell auf ein einheitliches Niveau gebracht werden. Auch wenn man den Bereich wechselt und sich neu einarbeitet. Gerade hier würde ich aber unbedingt auf eine Mischung aus Präsenz- und Online-Learning setzten, weil sich die Young-Professionals schließlich auch persönlich kennen lernen und berufliche Netzwerke bilden sollen. Und für die Unternehmen ist das Ganze auch noch kostengünstiger als reiner Präsenzunterricht.
Gehen wir mal weg von der fachlichen Seite - welche Auswirkungen hat das Home-Studying auf soziale und mentale Resilienz Ihrer Studierenden? Wovon konnten sie profitieren und wo treten Defizite auf?
Ein reines Online-Studium kann ganz klar zur Vereinsamung führen, zumal wenn auch noch klassische Begegnungsstätten wie Café, Restaurant, Bar, Theater, Kino geschlossen sind. Wie wir alle erlebt haben, fällt einem da sehr schnell die Decke auf den Kopf. Von gut gemachten Online-Angeboten kann man sicher auch profitieren und sich mit anderen Mitstudierenden auch zu einem Online-Chat treffen, um dem Vereinsamungs-Syndrom vorzubeugen. Bei allem Enthusiasmus für die Online-Lehre ist der persönliche Austausch aber in jedem Fall vorzuziehen. Einen gewissen „Vorteil“ hatten, wenn überhaupt, diejenigen, die an ihre Bachelor-, Master-, oder Doktorarbeit sitzen, weil sie einfach gezwungen waren, sich darauf zu konzentrieren.
Auch wenn die Digitalisierung und das Remote-Lernen viele Vorteile bieten, zu guter Letzt die Frage: Was vermissen Sie an der Präsenzlehre und worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Veranstaltungen wieder in Präsenz durchgeführt werden können?
Ich vermisse den direkten Augenkontakt, die Mimik und Gestik, aus der sich ablesen lässt, ob der Stoff angekommen ist. Man kann einfach spüren, ob und wann der „Funke überspringt“.