Frau Prof. Dr. Thormann, wie lief bisher die Überwachung der Rechnungslegung kapitalmarktorientierter Unternehmen ab - wo waren die Schwachpunkte, die nun zu einer Abschaffung des zweistufigen Enforcement-Verfahrens und der Einstellung der Tätigkeit der DPR geführt haben?
Prof. Dr. Bettina Thormann: Die Prüfung durch die DPR als privatrechtliche Institution mit etwa 15 Mitgliedern der Prüfstelle erfolgte auf konsensualer Basis mit den geprüften Unternehmen und war auf die Feststellung von Fehlern in der Rechnungslegung ausgerichtet, nicht jedoch auf Bilanzbetrug. In Betrugsfällen ist eine forensische Prüfung mit einem gänzlich anderen Prüfungsansatz, viel mehr Personal und vor allem Eingriffsrechten gegenüber fremden Dritten erforderlich. Eine solche Prüfung war für eine privatrechtliche Organisation ohne die entsprechende personelle und finanzielle Ausstattung und ohne die erforderlichen gesetzlichen Durchgriffsrechte eine „Mission impossible“. Der Gesetzgeber hat daher konsequent die BaFin exklusiv mit diesen Ressourcen und Rechten ausgestattet und mit dieser Aufgabe betraut.
Frau Prof. Dr. Thormann, mit dem FISG haben sich die Rahmenbedingungen beim Enforcement-Verfahren geändert. Welches sind die wesentlichen Unterschiede aus Sicht der Unternehmen?
Prof. Dr. Bettina Thormann: Das sind aus meiner Sicht folgende vier Aspekte:
- Aus Sicht der Unternehmen ist die erste Verteidigungslinie im Bilanzkontrollverfahren weggefallen. Bei unterschiedlichen Auffassungen zur Bilanzierung einzelner Sachverhalte hatten Unternehmen im zweistufigen Verfahren die Möglichkeit, eine Entscheidung der DPR durch die BaFin noch außergerichtlich überprüfen zu lassen, d. h. das gerichtliche Verfahren war immer nur die Ultima Ratio. Ohne die erste Stufe wird zukünftig eine Vielzahl von Verfahren vor Gericht landen. Für die Unternehmen ist das teuer und langwierig und es wird ganz sicher auch zu einer sehr viel stärkeren Belastung des OLG Frankfurt mit Bilanzkontrollverfahren als bisher führen. Wichtig ist auch, dass die BaFin eine Fehlerfeststellung trotz Widerspruch des Unternehmens und bei gerichtlicher Überprüfung unverzüglich auf ihrer Webseite veröffentlichen wird.
- Die Unternehmen werden eine eigene und transparente Kapitalmarktkommunikation bereits bei Anhaltspunkten für eine fehlerhafte Rechnungslegung im Rahmen eines Bilanzkontrollverfahrens erwägen müssen. Anders als die zur Verschwiegenheit verpflichtete DPR wird die BaFin für eine frühzeitige Information des Kapitalmarkts über laufende Bilanzkontrollverfahren sorgen. Die BaFin kann bei öffentlichem Interesse die Prüfungsanordnung und wesentliche Verfahrensschritte und Erkenntnisse im Prüfverfahren veröffentlichen. Insofern werden die Unternehmen jetzt überlegen müssen, ob und wie sie selbst Herr der Kommunikation bleiben können.
- Nicht mehr das Unternehmen, sondern die BaFin bestimmt die Auskunftspersonen im Enforcement-Verfahren und sie kann diese vorladen und vernehmen. In einer Stichprobenprüfung eines Konzernabschlusses sind mögliche Auskunftspersonen alle Mitglieder der Organe des Mutterunternehmens, aber auch aller Tochtergesellschaften sowie der Abschlussprüfer. In einer Anlassprüfung besteht ein Auskunftsrecht sogar gegenüber jedermann. Der Vorstand sollte daher alle Anstrengungen unternehmen, die Fragen der BaFin vollständig und richtig zu beantworten, sodass es für die Befragung weiterer Personen keinen Anlass gibt.
- Die Unternehmen könnten zukünftig häufiger und intensiver geprüft werden. Die BaFin wird die Personalkapazität im Enforcement von ca. 30 auf ca. 60 Mitarbeiter verdoppeln. Die Unternehmen werden entweder entsprechende Kapazitäten vorhalten oder Berater hinzuziehen müssen, um diesen erweiterten regulatorischen Anforderungen gerecht werden zu können.
Jetzt gibt es nur noch ein einstufiges Enforcement. Was ist daran neu? Wie geht die BaFin danach vor? Wann wird sie tätig?
Florian Riedl: Die Verfahren werden zukünftig per Verwaltungsakt angeordnet, sie werden formalisierter und stärker verwaltungsjuristisch geprägt sein als bei der DPR, wo die Mitwirkung im Enforcement ja auf Freiwilligkeit beruhte. Außerdem werden die Unternehmen zukünftig neben der Umlage auch die Kosten jedes Bilanzkontrollverfahrens separat bezahlen müssen.
Die BaFin hat angekündigt, ihre Maßnahmen in der Marktbeobachtung zu verbessern, um so gezielter Unternehmen mit einem hohen konkreten oder abstrakten Fehlerrisiko zu identifizieren. Darüber hinaus hat die BaFin nunmehr eine interaktive Whistleblower-Plattform, über die mit den Hinweisgebern auf anonymisierter Basis kommuniziert werden kann. Es ist daher davon auszugehen, dass die BaFin häufiger anlassbezogene Prüfungen einleiten wird als in der Vergangenheit und eine Vielzahl von Unternehmen als Risikounternehmen einer erhöhten Ziehungswahrscheinlichkeit unterwerfen wird. Da die Kapazität in der Bilanzkontrolle laut BaFin verdoppelt werden soll, bedeutet dies jedoch nicht, dass weniger reguläre Stichprobenprüfungen als bisher durchgeführt werden.
Frau Prof. Dr. Thormann, starten wir einmal mit den weniger brisanten Stichprobenprüfungen. Wie erfolgt die Auswahl der betroffenen Unternehmen und wie wird bei einer solchen Prüfung vorgegangen? Auch beim zweistufigen Enforcement gab es die Stichprobenprüfung. Was wird sich im Rahmen der einstufigen Prüfung durch die BaFin hier ändern?
Prof. Dr. Bettina Thormann: Auf Basis der veröffentlichten Stichprobengrundsätze der DPR, die von der ESMA (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde) als „good practice“ im Rahmen des Peer Reviews 2017 herausgestellt wurden, erfolgte die Stichprobenziehung in drei Stufen. Zunächst wurden aus der Gruppe der Unternehmen mit hohem abstrakten Risiko 40 % gezogen. Danach wurde - geschichtet nach Index- und Nichtindexunternehmen - auf Rotationsbasis eine Zufallsauswahl so getroffen, dass Indexunternehmen alle vier bis fünf Jahre und Nicht-Indexunternehmen alle acht bis zehn Jahre geprüft wurden. Anschließend erfolgte eine Ziehung von zehn Unternehmen aus der gesamten Grundgesamtheit, von denen drei bewusst für ein Enforcement-Verfahren ausgewählt wurden.
Die BaFin hat bisher keine Stichprobengrundsätze veröffentlicht, sodass wir nicht wissen, ob sie auch zukünftig in der gewohnten Form die Auswahl trifft.
Im Rahmen der Stichprobenprüfungen wird sich die BaFin ebenso wie die DPR voraussichtlich auf wenige Prüffelder fokussieren. Dies sind - soweit relevant für das konkrete Unternehmen - die European Common Enforcement Priorities, die jedes Jahr im Herbst von der ESMA veröffentlicht werden und weitere Prüffelder, die ein potenzielles Fehlerrisiko bergen.
Herr Riedl, wie sollten sich Unternehmen auf eine solche Stichprobenprüfung vorbereiten und aufstellen?
Florian Riedl: Die Unternehmen sind gut beraten, wenn sie zukünftig vollständige und verständliche Buchführungsunterlagen für ihre Konzernabschlüsse erstellen und vorhalten. Hierbei geht es nicht nur um Buchungsbelege im engen Sinne oder Vertragsunterlagen, sondern vor allem auch um die Dokumentation von wesentlichen Ermessensentscheidungen und von Management Judgement, z. B. bei auslegungsbedürftigen Standards oder bei Bewertungen mit großen Schätzunsicherheiten. Die BaFin wird verstärkt diese Unterlagen anfordern und nachträglichen Erläuterungen für Zwecke des Bilanzkontrollverfahrens weniger Bedeutung beimessen. Wenn aussagekräftige Unterlagen aus der Buchführung nicht vorgelegt werden können, kann die BaFin je nach Wesentlichkeit des abzubildenden Geschäftsvorfalls auch eine fehlerhafte Rechnungslegung aufgrund eines Verstoßes gegen § 238 HGB feststellen.
Herr Riedl, wie kann Ebner Stolz betroffene Unternehmen hierbei unterstützen?
Florian Riedl: Das Enforcement-Verfahren ist im Grundsatz ja nicht neu. Allerdings raten wir jedem kapitalmarktorientierten Unternehmen zu einem Enforcement Quick Check. Hier geht es für die Unternehmen um eine Dokumenteninventur: Besteht im Unternehmen zu allen relevanten (und hierauf raten wir auch, sich zu konzentrieren) rechnungslegungsrelevanten Sachverhalten eine Dokumentation? Auch wenn das Enforcement kein Bilanzierungshandbuch oder keine Bilanzierungsrichtlinie vorschreibt: Wenn für wesentliche Ermessensentscheidungen (deren Ausfluss ja auch in den Notes komprimiert dargestellt wird) keine Dokumentation vorhanden ist, stellt das künftig ein Problem dar.
Die Trennung von Prüfung und Beratung und die Anforderungen an das Vorhalten einer eigenen vom Prüfer unabhängigen Dokumentation zu wesentlichen Sachverhalten ist unabdingbar.
Bereits in der Abschlussprüfung werden mit der Festlegung der Key Audit Matters die wesentlichen Bereiche mit hohem Fehlerrisiko identifiziert, so dass die Unternehmen die Bereiche mit erhöhtem Dokumentationsanforderungen kennen. Ebner Stolz wird dabei mit den Unternehmen bereits im Rahmen der Abschlussprüfung diskutieren, ob die vorgeschlagene Bilanzierung im Einklang mit den Rechnungslegungsstandards steht und insofern bereits in dieser Phase in den Unternehmen auf die Erstellung einer adäquaten Dokumentation der kritischen Bilanzierungsentscheidungen hinwirken.
Frau Prof. Dr. Thormann, die immer komplexer werdenden Geschäftsvorfälle und Standards für die Finanz- und die Nachhaltigkeitsberichterstattung stellen immer höhere Anforderungen an Vorstände und Aufsichtsräte eines kapitalmarktorientierten Unternehmens. Da können doch auch leicht einmal Fehler passieren. Wie schnell rutscht ein Unternehmen in eine Anlassprüfung rein?
Prof. Dr. Bettina Thormann: Es ist richtig, dass sowohl die Geschäftsvorfälle selbst als auch die Standards immer komplexer werden, wodurch das Fehlerrisiko steigt. Ein Großteil der von der DPR festgestellten Fehler ist daher wohl auch ohne Absicht passiert und auf diese Gemengelage, manchmal aber auch auf eine fehlende Qualifikation im Rechnungswesen zurückzuführen.
Wer bewusst fehlerhaft bilanziert, ist der Gefahr einer Anlassprüfung schon allein deshalb ausgesetzt, weil es immer unternehmensinterne Mitwisser geben wird, die der BaFin als Whistleblower entsprechende Hinweise geben könnten.
Aber auch ein ordentlicher Kaufmann kann Gefahr laufen, in eine Anlassprüfung hineinzurutschen, insb. wenn die Investoren und Kapitalmarktteilnehmer den Abschluss nicht verstehen, z. B. weil die Lageberichts- und Anhangangaben zu wesentlichen Ermessensentscheidungen oder großen Geschäftsvorfällen unverständlich oder unvollständig sind, was dann in der Regel auch von der Presse aufgegriffen wird.
Und wie kann sich ein Unternehmen präventiv hiergegen schützen, Herr Riedl?
Florian Riedl: In einem ersten Schritt sollten die gestiegenen Anforderungen motivieren, mit frischem Blick auf die bisherige Rechnungslegung und den Rechnungslegungsprozess zu schauen. Konkret empfehlen wir Unternehmen die folgenden Schritte:
- Betroffenheitsanalyse: Hierzu zählt mit Sicherheit eine ehrliche Einschätzung der Komplexität der Rechnungslegung. Wie viel (erläuterungspflichtigen) Ermessensspielraum muss ich ausüben und liegt hierfür eine belastbare interne Dokumentation vor? Denn je komplexer meine Rechnungslegung ist, umso höher ist das Fehlerpotential bei einem Enforcement-Verfahren. Und wir sehen, dass Unternehmen oftmals die Komplexität der Rechnungslegung unterschätzen.
- Prozessanalyse: Gerade für komplexere Sachverhalte ist die Dokumentation und der Sachverstand auf wenige Personen im Unternehmen beschränkt. Unternehmen sollten daher analysieren, für welche rechnungslegungsrelevanten Themen das interne Kontrollsystem verbessert werden sollte. Hierzu zählt klassischerweise das planungsbezogene interne Kontrollsystem und Themenbereiche rund um komplexere Sachverhalte wie IFRS 2 oder latente Steuern. Relevant ist mit Sicherheit auch die Frage, ob mit dem Weggang von Mitarbeitern Enforcement-relevantes Wissen im Unternehmen verbleibt.
- Prävention: Was wären unabhängig von Prüfungsschwerpunkten der ESMA und der BaFin Fragen, mit denen wir konfrontiert werden und haben wir hierfür bereits Antworten? Mit sehr wenig Zeitaufwand verbunden ist zum Beispiel eine Analyse bisher veröffentlichter Fehler im Bundesanzeiger.
- Benchmarking: Sind unsere Prozesse im Vergleich zu gleich komplexen und gleich großen Unternehmen wettbewerbsfähig?
- Schärfung der Berichterstattung: In den letzten Jahren hat sich die Seitenzahl der Berichterstattung oftmals verselbstständigt. Hierdurch steigt das Risiko von falscher Schwerpunktelegung und Inkonsistenzen über verschiedene Berichterstattungsformate hinweg. Eine reduzierte, aber risikoadressierte Berichterstattung birgt oftmals weniger Fehlerpotential als eine weitgehend generische Berichterstattung, die im Zeitablauf immer ausufernder wird.
Unsere Empfehlung ist deshalb die Durchführung eines Workshops mit dem Vorstand und dem Aufsichtsrat. Vorstand und Aufsichtsrat können (z. B. im Bericht des Aufsichtsrats) so dokumentieren, dass den neuen Anforderungen aus dem FISG Rechnung getragen wurde. Und die Expertise von Frau Prof. Dr. Thormann ist für viele Unternehmen äußerst wertvoll.
Frau Prof. Dr. Thormann, wenn es nun zu einer Anlassprüfung kommt, welche Rechte hat die BaFin im Zusammenhang mit deren Durchführung?
Prof. Dr. Bettina Thormann: Die BaFin kann forensische Untersuchungen durchführen und wird verstärkt vor Ort prüfen. Sie hat ein Ladungs- und Vernehmungsrecht gegenüber Jedermann und ihre Eingriffsrechte sind an die der Strafverfolgungsbehörden stark angenähert. So kann sie bspw. Wohn- und Geschäftsräume durchsuchen und Akten beschlagnahmen.
Und welche Konsequenzen drohen für Unternehmen und Unternehmensleitung, wenn eine Anlassprüfung eingeleitet wird?
Florian Riedl: Da die BaFin den Kapitalmarkt zukünftig bereits bei Einleitung einer Prüfung über Anhaltspunkte für wesentliche Verstöße gegen Rechnungslegungsvorschriften informieren kann und aufgrund der Kritik im Wirecard-Verfahren auch informieren wird, drohen dem betroffenen Unternehmen - unabhängig davon, ob die Vorwürfe begründet sind oder nicht - ein erheblicher Reputationsschaden und starke Kursverluste. Die Unternehmen werden daher ebenfalls gut beraten sein, frühzeitig in die Kapitalmarktkommunikation zu treten, um entweder davon zu überzeugen, dass die gewählte Bilanzierung vertretbar und zweckmäßig war oder aber eine schnelle Fehlerkorrektur anzukündigen.
Hierauf sollten Unternehmen vorbereitet sein, da die Kommunikation nicht nur belastbar, sondern auch sehr schnell erfolgen sollte, um den Kapitalmarkt nicht zu verunsichern - dies dann oftmals auch in Zeiten erheblicher personeller Beanspruchung des Rechnungswesens. Eine gute Vorbereitung ist dann umso wichtiger und spart am Ende auch Geld und Ressourcen.
Wie schätzen Sie die Änderungen des Enforcement-Verfahrens, die ja durch den Wirecard-Skandal ausgelöst wurden, ein. Wird dies zu einer Verbesserung hinsichtlich der Überwachung von Finanzinformationen führen oder ist auch das neue Enforcement ein zahnloser Tiger?
Prof. Dr. Bettina Thormann: Bei Fällen mit Verdacht auf Betrug, insb. Top Management Fraud, ist das einstufige Verfahren mit der BaFin als zuständiger Behörde sicher eine Verbesserung, zumal die BaFin jetzt auch mit erweiterten Durchgriffsrechten ausgestattet wurde und kaum als zahnloser Tiger bezeichnet werden kann. Durch das FISG sehe ich aber leider einen generellen Trend zur Kriminalisierung des Bilanzrechts. Dies erscheint mir mit meiner Erfahrung aus 16 Jahren Enforcement jedoch nicht gerechtfertigt, da die wenigsten Bilanzierungsfehler, die von der DPR/BaFin in der Vergangenheit festgestellt wurden, als potentielle Bilanzbetrugsfälle an die Staatsanwaltschaft gemeldet werden mussten.