Worum ging es?
Aufgrund zweier EuGH-Vorlagebeschlüsse der beiden mit Umsatzsteuer befassten Senate des BFH stand die deutsche Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft auf dem Prüfstand (siehe auch unser Newsletter vom 28.08.2020). Im Raum stand sogar, dass Organträger ggf. die gesamte in der Vergangenheit an die Finanzverwaltung entrichtete Umsatzsteuer hätten zurückfordern können.
In den Schlussanträgen der Generalanwältin Medina zweifelte diese die Vereinbarkeit der deutschen Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft mit dem Gemeinschaftsrecht an (vgl. Schlussanträge vom 13.01.2022, Rs. C-141/20 und vom 27.01.2022, Rs. C-269/20 sowie unser Newsletter vom 03.02.2022). Zudem rückte die Frage der Steuerbarkeit von Innenumsätzen im Organkreis noch in den Fokus.
Der EuGH bestätigte in seinen Urteilen vom 01.12.2022 generell die EU-Konformität der deutschen Organschaftsregelung und entschied zum Kriterium der finanziellen Eingliederung (vgl. EuGH-Urteile vom 01.12.2022, Rs. C-141/20, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH und Rs. C‑269/20, Finanzamt T sowie unser Newsletter vom 06.12.2022). Allerdings waren die Aussagen des EuGH zur Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze nicht eindeutig und in der Fachliteratur umstritten.
Mit Urteil vom 18.01.2023, Az. XI R 29/22 (XI R 16/18), bestätigt nun der BFH die umsatzsteuerliche Organschaft in der Rechtsache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH und ändert seine bisherige Rechtsprechung zur finanziellen Eingliederung. Diese setzt zukünftig nicht mehr unbedingt die Stimmrechtsmehrheit voraus.
In der Rechtsache Finanzamt T legt der V. Senat des BFH mit Beschluss vom 26.01.2023, Az. V R 20/22 (V R 40/19), dem EuGH erneut zwei neue Fragen zur umsatzsteuerlichen Organschaft vor und bringt damit die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen auf den Prüfstand des EuGH.
Unionrechtskonformität der deutschen Organschaftsregelung
Mit seiner Folgeentscheidung vom 18.01.2023 (Az. XI R 29/22 (XI R 16/18)) sieht der BFH die Steuerschuldnerschaft des Organträgers für die Umsätze der Organschaft nun weiterhin als unionsrechtskonform an. Die vom EuGH hierfür genannten Bedingungen (Willensdurchsetzung und keine Gefahr von Steuerausfällen) sah der XI. Senat durch die Ausgestaltung der deutschen Organschaftsregelung als erfüllt an:
- Die gesetzliche Regelung (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) setzt nach der Rechtsprechung des BFH die Willensdurchsetzung des Organträgers bei der Organgesellschaft voraus.
- Es komme durch die Bestimmung des Organträgers als Steuerschuldner für den Organkreis nicht zur Gefahr von Steuerausfällen, da alle Organgesellschaften nach § 73 AO für solche Steuern haften, für welche die Organschaft zwischen der jeweiligen Organgesellschaft und dem Organträger steuerlich von Bedeutung ist, also gerade auch Umsatzsteuer.
- Soweit nach dem EuGH-Urteil eine Organgesellschaft nicht im Wege der Typisierung aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit zu einer Mehrwertsteuergruppe als „nicht selbständig“ eingestuft werden kann, folgt dem der BFH und sieht die Organgesellschaft im Streitfall dem Grunde nach als selbständig im Sinne des § 2 Abs. 1 UStG an.
Finanzielle Eingliederung setzt nicht mehr zwingend Stimmrechtsmehrheit voraus
Zum Kriterium der finanziellen Eingliederung ändert der BFH mit der Entscheidung vom 18.01.2023 seine Rechtsprechung:
- Die finanzielle Eingliederung erfordert im Grundsatz weiterhin, dass dem Organträger die Mehrheit der Stimmrechte an der Organgesellschaft zusteht.
- Eine finanzielle Eingliederung kann nunmehr aber auch dann vorliegen, wenn die erforderliche Willensdurchsetzung dadurch gesichert ist, dass der Gesellschafter zwar nur über 50 % der Stimmrechte verfügt, er im Übrigen eine Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Organgesellschaft hält und er den einzigen Geschäftsführer der Organgesellschaft stellt.
- Soweit der BFH bisher immer eine Mehrheit der Stimmrechte vorausgesetzt hat, ist nunmehr bei einer abweichenden kapitalmäßigen Beteiligung auf das Verhältnis der gesellschaftsrechtlichen Stimmrechte abzustellen.
- Der BFH betont, dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung zur erforderlichen Willensdurchsetzung festhält, wonach das Weisungsrecht, das der Gesellschafterversammlung gegenüber der Geschäftsführung zusteht (§ 37 Abs. 1 GmbHG) im Grundsatz nach Stimmrechten auszuüben ist (§ 47 Abs. 1 GmbHG).
- Gleichwohl kann eine Mehrheitsbeteiligung trotz Stimmrechten von nur 50 % als schwächer ausgeprägte finanzielle Eingliederung anerkannt werden, wenn die organisatorische Eingliederung durch komplette Personenidentität der Geschäftsführung besonders stark ausgeprägt
- Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass auch weiterhin keine Organschaft zwischen Schwestergesellschaften ohne Einbeziehung des gemeinsamen Gesellschafters in Betracht kommt.
Steuerbarkeit der Innenumsätze nunmehr (weiterhin) auf dem Prüfstand des EuGH
Mit dem Beschluss vom 26.01.2023, Az. V R 20/22 (V R 40/19), legt der BFH nun aber dem EuGH noch die Frage vor, ob die nach deutschem Recht nicht steuerbaren Innenumsätze zwischen Mitgliedern einer Organschaft der Umsatzsteuer zu unterwerfen sind.
- Gefahr von Steuerverlusten?
Während der XI. Senat des BFH ebenso wie der EuGH die Gefahr von Steuerverlusten aufgrund der bestehenden Haftungsregelung des § 73 AO als nicht gegeben angesehen hat, stellt der V. Senat des BFH diese Sichtweise in seiner Vorlagefrage in Frage. Nach seiner Überlegung kann auch dann die Gefahr von (materiellen) Steuerverlusten bestehen, wenn nicht steuerbare Innenumsätze an nicht vorsteuerabzugsberechtigte Mitglieder des Organkreises erbracht werden.
- Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze bisher ungeklärt
Zudem weist der BFH darauf hin, dass die Vorlagefrage auch deshalb als ungeklärt anzusehen sei, weil mehrere Generalanwälte beim EuGH in ihren Schlussanträgen unterschiedliche Auffassungen zu der Frage vertreten haben.
Für die Annahme von nichtsteuerbaren Innenumsätzen im Sinne der bisherigen Lesart des BFH und der deutschen Finanzverwaltung argumentierten beispielsweise die Generalanwälte
- Jääskin (Schlussanträge in der Rechtssache Kommission/Irland vom 27.11.2012, C-85/11, und in der Rechtssache Kommission/Schweden vom 27.11.2012, C-480/10),
- Mengozzi (Schlussantrag in den Rechtssachen Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt vom 26.03.2015, C-108/14 und C-109/14) sowie
- van Gerven (in der Rechtssache Polysar Investments Netherlands vom 24.04.1991, C-60/90).
Demgegenüber wurde die Frage der Steuerbarkeit von Innenumsätzen erst durch die Schlussanträge der Generalanwältin Medina zu den beiden Vorlageverfahren in den Rechtssachen Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie sowie Finanzamt T thematisiert.
Anmerkung: Der EuGH hat in seiner Entscheidung trotz der Ausführungen der Generalanwältin in ihren Schlussanträgen nicht explizit zu dieser Frage Stellung genommen.
- Positionierung durch den V. Senat des BFH
Nach Auffassung des V. Senats spricht einiges dafür, dass Innenumsätze entgegen der bisherigen Sichtweise des BFH dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen:
- Nach dem Kontext der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften erbrächten Mitglieder ihre Innenumsätze im Rahmen ihrer selbständigen Tätigkeit. Zudem sei es nach der Rechtsprechung des EuGH einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege einer Typisierung als nicht selbständig anzusehen.
- Zudem dürften die mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften verfolgten Ziele (Verwaltungsvereinfachung sowie Verhinderung bestimmter Missbräuche) die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen nicht erfordern.
- Auch bestünde die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen durch unterschiedliche Anwendung des Unionsrechts, da nur einzelne Mitgliedsstaaten von der EU-Ermächtigung Gebrauch machen.
- Generell könne der allgemeine Missbrauchsbegriffs sogar dafür aufgeführt werden, dass eine Steuerbarkeit von Innenumsätzen jedenfalls dann vorliegt, wenn Leistungen an nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Gruppenmitglieder ausgeführt werden sollen.
- Nationale Vorschrift richtlinienkonform auslegbar?
Sollten Innenumsätze nicht steuerbar sein, so hält der V. Senat in seinem Beschluss die nationale Vorschrift des § 2. Abs. 2 Nr. 2 UStG für richtlinienkonform auslegbar.
Dies verwundert dahingehend, als nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG die gewerbliche und berufliche Tätigkeit nicht selbständig ausgeübt wird, wenn eine Organgesellschaft in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist. Die Wirkung der Organschaft ist dann auf Innenleistungen der Organschaft beschränkt (Satz 2) und die Unternehmensteile sind zudem als ein Unternehmen zu behandeln (Satz 3).
Laut Ausführungen des V. Senats würde die EU-konforme Auslegung nur dazu führen, dass durch die Unselbständigkeit lediglich die Organgesellschaft von ihrer Deklarationsverpflichtung entbunden würde und der Organträger alle Umsätze inklusive der Innenumsätze zu erklären und versteuern hätte.
Selbst der eindeutige Gesetzeswortlaut, dass die im Inland gelegenen Unternehmensteile als ein Unternehmen zu behandeln sind, sollen dieser weiten (über den Wortlaut hinausgehenden) Auslegung nicht entgegenstehen. Auch aus dem Gesetzeswortlaut, dass Unternehmensteile als ein Unternehmen zu behandeln sind, was folglich zur Nichtsteuerbarkeit der (inländischen) Innenumsätze führen würde, soll nach Auffassung des V. Senats diesen Schluss nicht zulassen. Dies ergebe sich zum einen daraus, dass man bei Einführung des Gesetzes nur die Beschränkung des Anwendungsbereichs der Organschaft im Inland im Blick gehabt habe. Zum anderen könne die gesetzliche Regelung deshalb nicht zur Nichtsteuerbarkeit führen, weil man hiervon schon vor Schaffung der Regelung ausgegangen sei.
Was können/müssen Sie tun?
Unternehmen mit von der Beteiligungsquote abweichender Stimmrechtsquote sollten das Urteil des XI. BFH-Senats zum Anlass nehmen, die Voraussetzungen für das Vorliegen der finanziellen Eingliederung zu überprüfen.
Im Hinblick auf die drohende Steuerbarkeit der Innenumsätze muss grundsätzlich die Entscheidung des EuGH und die Folgeentscheidung des BFH abgewartet werden. Bei Organkreisen mit vorsteuerschädlichen Tätigkeiten kann erwogen werden, kalkulierte Organschaftsvorteile - insbesondere bei langfristigen Projekten - zu prüfen und ggf. anzupassen.
Zu hoffen bleibt, dass die Entscheidung des EuGH in dieser Vorlagefrage zu einer ähnlichen Entspannung führen wird wie die vorangegangenen Urteile. Zumindest die überwiegende Zahl der Generalanwälte ging, ebenso wie der BFH und die deutsche Finanzverwaltung, von der Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze aus.
Sollte demgegenüber der EuGH die nunmehr gewandelte Sichtweise des BFH bestätigen, wäre es wünschenswert, wenn der vorlegende Senat des BFH seine Überlegungen zur Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Vorschrift überdenken würde. Eine Orientierung am Wortlaut der Norm wäre zu begrüßen. Die Ausführungen, dass der Gesetzeswortlaut auch deshalb nicht zur Nichtsteuerbarkeit führen könnte, weil man davon schon zuvor ausging, lassen nur den Rückschluss zu, dass zukünftig die Anerkennung von Nachbesserungen durch eine „klarstellende“ Gesetzesauslegung durch den BFH fraglich sein wird.
Hierbei sollte der Senat auch seinen bei der ersten Vorlagefrage gewählten Argumentationsansatz reflektieren. Dieser orientierte sich mit dem Hinweis auf drohende erhebliche Steuerausfälle wenig am Wortlaut der Mehrwertsteuersystemrichtlinie oder deren Systematik und dafür überraschend deutlich an den drohenden negativen Folgen für den deutschen Fiskus.
Nachvollziehbar mag vorliegend noch sein, dass die Frage der Steuerbarkeit der Innenumsätze dem EuGH vorgelegt wurde. Leider nicht mehr nachvollziehbar ist hingegen in weiten Teilen die Positionierung durch den V. Senat des BFH und die Begründung hierfür. Es bleibt somit spannend!