Die derzeitigen Bestimmungen über die EU-Mehrwertsteuersätze sind fast 30 Jahre alt. Schon seit Langem ist klar, dass diese einer Modernisierung bedürfen. Insbesondere die Themen digitale Wirtschaft und Klimawandel wurden bisher kaum berücksichtigt. Moniert wurde zudem die zu geringe Flexibilität der Regelungen. So war in vielen Fällen die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erforderlich, wenn einzelne Mitgliedstaaten etwa die Förderung bestimmter Wirtschaftszweige in ihrem Land für notwendig erachteten und einen ermäßigten Steuersatz für Leistungen gewähren wollten. Auch führten historische Ausnahmeregelungen für bestimmte Mitgliedstaaten zu Ungleichbehandlungen: Während einige Mitgliedstaaten ermäßigte Steuersätze oder Nullsteuersätze auf bestimmte Leistungen anwenden durften, waren andere hiervon für dieselbe Art von Leistung ausgeschlossen.
Derzeit gilt innerhalb der EU ein Mehrwertsteuernormalsatz von mindestens 15% auf alle Gegenstände und Dienstleistungen. Die Mitgliedstaaten können zudem einen oder zwei ermäßigte Steuersätze von mindestens 5% auf klar definierte Gegenstände und Dienstleistungen anwenden.
Reformüberlegungen der EU-Kommission
Erstmals stand die Aktualisierung der Regelungen im 2016 bekanntgegebenen Mehrwertsteuer-Aktionsplan auf der Agenda der EU-Kommission. Ein Anfang 2018 präsentierter Vorschlag beinhaltete dann die Abschaffung der Liste für die ermäßigten Steuersätze und die Einführung einer Negativliste mit Gütern, auf die keine ermäßigten Steuersätze angewendet werden dürfen (z.B. Alkohol, Tabak, Waffen). Den Mitgliedstaaten wäre dadurch bei der Festlegung der Mehrwertsteuersätze größerer Spielraum eingeräumt worden. Der Gedanke der Nachhaltigkeit stand damals nicht im Vordergrund.
Richtlinienvorschlag des ECOFIN-Rats berücksichtigt Nachhaltigkeit
Am 07.12.2021 einigten sich die EU-Finanzminister im Rat „Wirtschaft und Finanzen“ (ECOFIN) auf einen Richtlinienentwurf zur Änderung der EU-Mehrwertsteuersätze, der vom Vorschlag der EU-Kommission abweicht und völlig neue Motive in das europäische Mehrwertsteuerrecht einführt. Der Rat begründet seinen Richtlinienentwurf nun ausdrücklich mit den Zielen des Klimaschutzes und öffentlichen Gesundheitsschutzes. Er plant die Liste an Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Steuersätze angewendet werden können (Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie), diesbezüglich speziell zu ändern.
Der Rat geht nun davon aus, dass der Rechtsrahmen für die ermäßigten Steuersätze mit anderen Maßnahmen der EU kohärent sein muss und greift Initiativen im Bereich des Gesundheitsschutzes und zur Bewältigung des Klimawandels auf. Dies betrifft nach seiner Ansicht insbesondere das „EU4Health-Programm (EU-Verordnung 2021/522) und das von der EU-Kommission am 11.12.2019 vorgestellte Konzept eines „Grünen Deals“.
Dabei hält er an der bisherigen Systematik eines Normalsteuersatzes von 15 % und bis zu zwei ermäßigten Steuersätzen mit mindestens 5 % fest, die dann allerdings nur noch auf 24 der 29 in Anhang III aufgelisteten Leistungen anwendbar sein dürfen. Die Liste an Gegenständen und Dienstleistungen, auf die ermäßigte Steuersätze angewendet werden können, soll an die Ziele der EU zum Klimaschutz und des öffentlichen Gesundheitsschutzes angepasst werden.
Nach den Plänen des ECOFIN-Rats müssen die Mitgliedstaaten spätestens ab dem Jahr 2030 auf fossile Brennstoffe, Erdgas, Brennholz etc. den Normalsteuersatz von 15 % erheben. Ab spätestens 2032 sollen zudem ermäßigte Steuersätze auf chemische Schädlingsbekämpfungs- und Düngemittel abgeschafft werden. Stattdessen sollen Steuersatzermäßigungen und/oder -befreiungen auf folgende Leistungen ermöglicht werden:
- Medizinische Schutzausrüstungen,
- Atemschutzmasken,
- notwendige Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung,
- digitale Dienstleistungen wie Internetzugang und Live-Streaming von Kultur- oder Sportveranstaltungen,
- (E-)Fahrräder,
- ökologische Heizsysteme und Solarpaneele, die in Privathaushalten und öffentlichen Gebäuden installiert werden und sich positiv auf den Klimaschutz auswirken können.
Außerdem ist eine Regelung vorgesehen, durch die Mitgliedstaaten künftig in Krisensituationen (z. B. Pandemien und Naturkatastrophen) rasch Steuerbefreiungen auf Leistungen an Katastrophenopfer einführen können. Damit ermöglicht es der Richtlinienentwurf den Mitgliedstaaten nicht nur flexibel auf die Herausforderungen des Klimawandels zu reagieren, sondern gibt ihnen auch Möglichkeiten an die Hand, ökologisch sinnvolles Verhalten der EU-Bürger zu fördern.
Handlungsspielräume für die neue Bundesregierung
Im Laufe des März 2022 soll das EU-Parlament seine Stellungnahme zu dem Richtlinienvorschlag abgeben. Danach ist die förmliche Annahme der Richtlinie durch den Rat geplant.
Damit könnte die Grundlage für eine Umsetzung in nationales Umsatzsteuerecht bereits in der ersten Jahreshälfte 2022 geschaffen sein. Angesichts der im Koalitionsvertrag genannten Vorhaben der neuen Bundesregierung dürften auch zahlreiche der geplanten Regelungen in das deutsche Umsatzsteuerrecht übernommen werden.