Mit Urteil vom 07.03.2024 (Rs. C-341/22, San Gregorio) stärkt der EuGH Unternehmen in Bezug auf das grundsätzlich bestehende Recht auf Vorsteuerabzug. Dieses darf nur dann eingeschränkt werden, wenn die Geltendmachung eine Steuerhinterziehung oder einen Missbrauch darstellt. Regelungen, die den Vorsteuerabzug systematisch in Frage stellen, sind demgegenüber nicht mit EU-Recht vereinbar.
Sachverhalt
Die Klägerin war eine Gesellschaft italienischen Rechts, deren wirtschaftliche Tätigkeit in der Erzeugung und Vermarktung von Wein in der Region Kampanien bestand. Für das Jahr 2008 wollten die italienischen Steuerbehörden das Recht auf Vorsteuerabzug versagen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Gesellschaft sei als nicht operatives Unternehmen zu betrachten, da der Wert der angegebenen Ausgangsumsätze unter dem Schwellenwert liege, nach dem Unternehmen nach italienischem Recht als operative und damit zum Vorsteuerabzug berechtigte Unternehmen gelten.
Das zuständige italienische Gericht fragte daraufhin beim EuGH an, ob einem Unternehmen, das für Zwecke der Mehrwertsteuer relevante Umsätze bewirkt, ohne jedoch die nach italienischer Regelung vorgesehene Einnahmeschwelle zu erreichen, die Eigenschaft als Steuerpflichtiger und damit das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden kann. Fraglich war insbesondere, ob dann kein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, wenn dieses Unternehmen nicht nachweist, dass objektive Umstände die Erzielung von über diesem Schwellenwert liegenden Einnahmen unmöglich gemacht haben.
Das vorlegende Gericht hegte insoweit Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen Praxis mit Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsystemsteuerrichtlinie (MwStSystRL). Dieser Vorschrift ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass sich die Eigenschaft als Steuerpflichtiger aus der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ergibt.
Zudem stellte das vorlegende Gericht die Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit den Grundsätzen der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit in Frage, denn die durch Mitgliedsstaaten zu ergreifenden Maßnahmen dürfen nicht über das Ziel der Bekämpfung von Betrug und Steuerhinterziehung und etwaigen Missbräuchen hinausgehen.
Darüber hinaus fragte es, ob die unionsrechtlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes einer nationalen Regelung entgegenstehen, die das Recht auf Abzug der auf Erwerbe entrichteten Mehrwertsteuer auf ihre Erstattung oder ihre Verwendung in einem folgenden Besteuerungszeitraum versagt, wenn die für Zwecke der Mehrwertsteuer relevanten aktiven Umsätze des Steuerpflichtigen bestimmte Schwellenwerte nicht erreichen.
Wesentliche Aussagen des EuGH
Zunächst bestätigt der EuGH seine bisherige Rechtsprechung zum Vorliegen eines Steuerpflichtigen:
- Nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL gilt als „Steuerpflichtiger“, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.
- Aus dem Wortlaut ergebe sich also nicht nur deutlich der Umfang des Anwendungsbereichs des Begriffs der „wirtschaftlichen Tätigkeit“, sondern zeige zugleich auch den objektiven Charakter des Art. 9 MwStSystRL, da die Tätigkeit an sich, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis betrachtet wird.
- Die Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger (oder Unternehmer) hänge also nicht davon ab, ob eine Person relevante Umsätze bewirke, deren wirtschaftlicher Wert eine zuvor festgelegte Schwelle überschreiten. Das Recht auf Vorsteuerabzug dürfe daher grundsätzlich nicht aus diesem Grund beschnitten werden.
Zudem bekräftigt er seine bisher zum Vorsteuerabzug aufgestellten Grundsätze:
- Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleiste die völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von deren Zweck und deren Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich ihrerseits der Mehrwertsteuer unterliegen.
- Für das Recht auf Vorsteuerabzug müssen (nur) zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
- Der Betroffene muss ein Unternehmer sein und
- die bezogenen Leistungen müssen von dem Unternehmer auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke der eigenen besteuerten Umsätze verwendet werden.
- Dabei wird das Recht auf Vorsteuerabzug zugunsten des Steuerpflichtigen auch bei Fehlen eines direkten und unmittelbaren Zusammenhangs zwischen einem bestimmten Eingangsumsatz und einem oder mehreren zum Abzug berechtigenden Ausgangsumsätzen angenommen, wenn die Kosten für die fraglichen Gegenstände und Dienstleistungen zu den allgemeinen Aufwendungen des Steuerpflichtigen gehören und – als solche – Kostenelemente der von ihm gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen sind.
- Derartige Kosten hängen nämlich mit der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen zusammen.
Das grundsätzlich bestehende Recht auf Vorsteuerabzug dürfe nur dann eingeschränkt werden, wenn die Geltendmachung eine Steuerhinterziehung oder einen Missbrauch darstelle:
- Das Vorsteuerabzugsrecht dürfe nur versagt werden, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in einer Weise geltend gemacht wird, die eine Steuerhinterziehung oder einen Missbrauch darstellt.
Wobei die Nachweisplicht die Finanzbehörde trifft:
- Da die Versagung zu Lasten des Steuerpflichtigen wirkt und eine Ausnahme zum Grundprinzip darstellt, obliegt die Nachweispflicht hinsichtlich der objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war, der Steuerbehörde.
- Das Vorsteuerabzugsrecht allein wegen der Nichterreichung von Schwellenwerten zu versagen, sei kein geeigneter Nachweis in diesem Sinne.
Und eine allein auf Vermutungen gestützte Versagung kein geeigneter Nachweis in diesem Sinne ist:
- Denn diese Vermutung beruhe nämlich nicht auf der Beurteilung, ob für Zwecke der Mehrwertsteuer relevante Umsätze in einem bestimmten Besteuerungszeitraum tatsächlich bewirkt wurden und auch nicht auf der Beurteilung, ob sie tatsächlich für die Bewirkung von Ausgangsumsätzen verwendet wurden, sondern nur auf der Bewertung ihres Umfangs.
- Daher könne diese Vermutung nicht als zum Nachweis dafür geeignet angesehen werden, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in einer Weise geltend gemacht wurde, die eine Steuerhinterziehung oder einen Rechtsmissbrauch darstellt. Denn das Recht auf Vorsteuerabzug könne nur versagt werden, wenn die zum Nachweis einer solchen Steuerhinterziehung oder eines solchen Missbrauchs geltend gemachten Tatsachen auf andere Weise als durch Vermutungen rechtlich hinreichend nachgewiesen sind.
Welche Auswirkungen ergeben sich für die Praxis?
Da es sich um einen EuGH-Beschluss in einem italienischen Vorlageverfahren handelt, wird dieser trotz der unmittelbaren Geltung auch in anderen Mitgliedstaaten erfahrungsgemäß seitens der deutschen Finanzverwaltung eher zurückhaltend angewendet werden.
Grundsätzlich ist der vorliegende Beschluss positiv zu bewerten, da der EuGH wiederholt Unternehmer im Hinblick auf das generell bestehende Recht auf Vorsteuerabzug stärkt und dabei sehr deutlich aufzeigt, dass dieses Recht nur unter sehr engen Voraussetzungen eingeschränkt werden darf.
Auch wenn der Beschluss nicht unmittelbar zu Holdinggesellschaften ergangen ist, gelten die durch den EuGH aufgestellten Grundsätze auch für Holdinggesellschaften, die - soweit sie Beteiligungen nur unternehmerisch halten - grundsätzlich zum Vorsteuerabzug berechtigt sind. Gerade bei Holdinggesellschaften übersteigen die Vorsteuerbeträge oftmals die geschuldete Umsatzsteuer, wenn Akquisitionen oder Reorganisationen stattfinden. Die Verwaltung hat in der Vergangenheit teilweise eine „Amortisation“ der Eingangskosten gefordert. Dies kann angesichts der abermaligen klaren Position des EuGH nicht aufrechterhalten werden.
Einschränkungen für den Vorsteuerabzug können nur bestehen,
- wenn Beteiligungen außerunternehmerisch gehalten werden oder
- die Holdinggesellschaft auch steuerfreie Umsätze (beispielsweise Vermietungsleistungen oder Kreditvergaben ohne Option zur Umsatzsteuerpflicht) erzielt oder
- wenn eine Gestaltung rein künstlich ist und nur einen Steuervorteil erzielen soll.
In Ausnahmefällen kann zudem der Vorsteuerabzug auch bei einer reinen Führungsholding beschränkt sein, wenn die Leistungen unmittelbar für schädliche Ausgangsumsätze der Tochtergesellschaften bestimmt sind und die bezogenen Leistungen durch die Führungsholding nicht im Rahmen eines Leistungsaustausches, sondern als Gesellschafterbeitrag an die Tochtergesellschaft weitergereicht werden. Weitere Informationen zu diesem außergewöhnlichen Fall finden Sie in unserem Umsatzsteuer-Newsletter vom 16.08.2023.