Der Sachverhalt:
Die drei Kläger waren Miteigentümer eines Projektstandorts in Irland, auf dem sie 15 Ferienwohnungen errichteten, die verkauft werden sollten. Vor dem Verkauf tätigten sie 2002 mehrere Geschäfte mit einer mit ihnen verbundenen Gesellschaft, der Shamrock Estates. Am 8.3.2002 schlossen sie mit dieser Gesellschaft zwei Mietverträge, und zwar einen Mietvertrag, mit dem sie ihr diese Immobilien für einen Zeitraum von 20 Jahren und einem Monat ab diesem Zeitpunkt vermieteten ("langfristiger Mietvertrag"), und einen Mietvertrag, mit dem Shamrock Estates diese Immobilien an die Miteigentümer für zwei Jahre zurückvermietete. Am 3.4.2002 wurden die beiden Mietverträge durch gegenseitigen Verzicht der jeweiligen Mieter beendet, so dass die Miteigentümer das volle Eigentum an den Immobilien wiedererlangten.
Der Hohe Gerichtshof (Irland) entschied, dass die Mietverträge, da sie keinen wirtschaftlichen Gehalt hätten, eine missbräuchliche Praxis i.S.d. sich aus dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Halifax (EuGH 21.2.2006, C-255/02) ergebenden Rechtsprechung darstellten. Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er sich aus dieser Rechtsprechung ergebe, verlange, missbräuchliche Maßnahmen entsprechend der Realität umzuqualifizieren, auch wenn es keine nationalen Rechtsvorschriften gebe, die diesen Grundsatz umsetzten.
Der mit einem Rechtsmittel befasste Oberste Gerichtshof (Irland) möchte im Wege des Vorabentscheidungsersuchens vom EuGH wissen, ob dieser Grundsatz unabhängig von einer nationalen Maßnahme zu seiner Durchsetzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbar angewandt werden kann, um Immobilienverkäufen die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen. Außerdem fragt sich das Gericht, ob eine solche Anwendung des Grundsatzes mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, da die fraglichen Geschäfte vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden.
Die Gründe:
Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er im Urteil Halifax auf die Mehrwertsteuerrichtlinie (Sechste Richtlinie 77/388/EWG) angewandt wurde, stellt keine durch eine Richtlinie aufgestellte Regel dar. Vielmehr hat dieser Grundsatz seine Grundlage in einer ständigen Rechtsprechung, wonach zum einen eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und zum anderen die Anwendung des Unionsrechts nicht so weit gehen kann, dass die missbräuchlichen Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden.
Diese Rechtsprechung ist in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts ergangen. Die Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken auf die durch das Unionsrecht vorgesehenen Rechte und Vorteile erfolgt unabhängig von der Frage, ob diese Rechte und Vorteile ihre Grundlage in den Verträgen, in einer Verordnung oder in einer Richtlinie haben. Der fragliche Grundsatz weist somit den grundsätzlichen Charakter auf, der den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt. Demzufolge kann er einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden, um ihm u.a. das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen.
Eine solche Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken ist mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar, auch wenn diese Anwendung Geschäfte betrifft, die vor dem Erlass des Urteils Halifax getätigt wurden. Durch die Auslegung des Unionsrechts, die der EuGH vornimmt, wird erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite dieses Recht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass der Richter das Unionsrecht in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden muss, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind. Außerdem hat der EuGH im Urteil Halifax die zeitliche Wirkung seiner Auslegung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken im Mehrwertsteuerbereich nicht begrenzt, und eine solche Begrenzung kann nur in dem Urteil selbst erfolgen, mit dem über die erbetene Auslegung entschieden wird.
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