Entstehung eines Gemeinschaftsbetriebs
Die Arbeitsabläufe in Unternehmen und Konzernen sehen heutzutage häufig wie folgt aus: Die Arbeitsanweisungen erfolgen funktional, die Berichtslinien verlaufen produktbezogen – und damit oftmals unternehmensübergreifend. Vielfältige Dienstleistungen werden arbeitsteilig von einer Gesellschaft oder als Shared service unternehmensübergreifend angeboten. Gesellschaften tauschen untereinander Betriebsmittel aus oder halten sie gemeinsam. Und auch das Personal wird der Einfachheit halber durch eine gemeinsame Personalabteilung verwaltet. Alle diese Maßnahmen dienen der Effizienz und führen zu Kosteneinsparungen. Die klassischen Unternehmensstrukturen, also eine Gesellschaft mit den Abteilungen: Produktion, Vertrieb und Verwaltung, lösen sich u.a. aus diesem Grund immer mehr auf. Da ist es oft nicht mehr weit bis zu einem Gemeinschaftsbetrieb. Doch wann liegt ein Gemeinschaftsbetrieb vor und was sind dessen rechtliche Folgen?
Eine gesetzliche Definition des Gemeinschaftsbetriebs existiert nicht. Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen liegt ein Gemeinschaftsbetrieb mehrerer rechtlich selbstständiger Unternehmen immer dann vor, „wenn die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für einen einheitlichen arbeitstechnischen Zweck zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leistungsapparat gesteuert wird.“
Ob ein einheitlicher Leitungsapparat besteht, bestimmt sich maßgeblich danach, ob die wesentlichen Funktionen der jeweiligen Vertragsarbeitgeber in personellen und sozialen Angelegenheiten gemeinschaftlich wahrgenommen werden. Hierzu muss eine – wenn auch nur stillschweigend geschlossene – Vereinbarung zur gemeinsamen Betriebsführung (Führungsvereinbarung) vorliegen, die dazu führt, dass eine institutionell einheitliche Arbeitgeberfunktion in betriebsverfassungsrechtlicher Hinsicht entsteht. Ein Gemeinschaftsbetrieb geht folglich über eine bloße unternehmerische Zusammenarbeit hinaus. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass die Betriebe mindestens zweier unterschiedlicher Rechtsträger ihre eigene Identität verlieren und in einem neuen Betrieb aufgehen. Erfolgt eine Zusammenarbeit und einheitliche Leitung nur für bestimmte Abteilungen oder Betriebsteile zweier Unternehmen, kann ein Gemeinschaftsbetrieb sogar dann entstehen, wenn dieser sich nur aus den betroffenen Abteilungen zusammensetzt.
Wesentliche Indizien für einen Gemeinschaftsbetrieb sind: Eine gemeinsame Personalabteilung, gemeinsame räumliche Unterbringung und Nutzung von Betriebsmitteln, gemeinsame Buchhaltung oder gemeinsames Sekretariat bzw. unternehmensübergreifender Personaleinsatz. Allein die Tatsache, dass die Unternehmensleitung personenidentisch ist, begründet hingegen noch keinen Gemeinschaftsbetrieb. Dasselbe gilt für Absprachen und Einflussnahmen auf gesellschaftsrechtlicher Ebene, so dass z.B. Beherrschungsverträge kein Indiz für einen Gemeinschaftsbetrieb sind.
Rechtliche Folgen eines Gemeinschaftsbetriebs
Die Entstehung eines Gemeinschaftsbetriebs ist relevant für die Anwendbarkeit des KSchG, die unternehmensübergreifende Sozialauswahl und die Ausübung der Arbeitgeberstellung.
Geltung des Kündigungsschutzgesetzes
Liegt ein Gemeinschaftsbetrieb vor, werden die Schwellenwerte des KSchG schneller und häufig unentdeckt erreicht.
Eine gravierende Auswirkung des Gemeinschaftsbetriebs zeigt sich bereits bei Frage der Anwendbarkeit des KSchG. Für die Ermittlung des Schwellenwertes des KSchG (§ 23 Abs. 1 Sätze 2, 3) sind nämlich alle Arbeitnehmer des Gemeinschaftsbetriebs – unabhängig von ihrer jeweiligen Unternehmenszugehörigkeit – zu addieren. In der Praxis existieren daher häufig "unentdeckte" Gemeinschaftsbetriebe, z.B. zwischen der operativ tätigen Gesellschaft und der nur wenige Arbeitnehmer beschäftigenden Holding. Dann können sich u.U. auch die Mitarbeiter der Holdinggesellschaften, die den Schwellenwert des § 23 KSchG allein nicht erfüllen, auf den allgemeinen Kündigungsschutz berufen. Diese Konstellation erlangt immer dann besondere Bedeutung, wenn die Holding und die operativ tätige Gesellschaft in derselben Betriebsstätte ansässig sind und dieselbe Personalverwaltung beide „betreut“.
Unternehmensübergreifende Sozialauswahl
Die wesentliche individualarbeitsrechtliche Folge eines Gemeinschaftsbetriebs besteht jedoch darin, dass bei einer betriebsbedingten Kündigung die Sozialauswahl unternehmensübergreifend vorzunehmen ist. Es kommt ausnahmsweise zu einem arbeitgeberübergreifenden Kündigungsschutz, obwohl die Arbeitnehmer tatsächlich nur bei einem Arbeitgeber angestellt sind. Dies hat im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess für den Arbeitgeber beachtliche Konsequenzen.
Die Erklärung dieses Umstandes ist, dass der deutsche Kündigungsschutz betriebsbezogen ist: § 1 Abs. 3 KSchG beschränkt ihn auf den Betrieb als maßgebende Organisationseinheit – unabhängig vom Arbeitgeber. Das führt beim Gemeinschaftsbetrieb quasi spiegelbildlich dazu, dass sich die Sozialauswahl auf alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer – wieder unabhängig von ihrer jeweiligen Unternehmenszugehörigkeit – erstreckt. Durch den einheitlichen Leitungsapparat für den Gemeinschaftsbetrieb haben die beteiligten Unternehmen ihre eigenen (personal-)rechtlichen Kompetenzen derart delegiert bzw. gebündelt, dass die gemeinsame Leitung die Sozialauswahl nur noch einheitlich treffen kann. Andere Betriebe der an dem Gemeinschaftsbetrieb beteiligten Unternehmen bleiben bei der Sozialauswahl hingegen außer Acht, weil insoweit keine (arbeitsvertragliche) Verbindung zwischen den Arbeitnehmern der verschiedenen Betriebe (mehr) besteht.
Erst wenn die gemeinsame Leitungsstruktur zwischen den beteiligten Unternehmen wieder aufgehoben wird, entfällt die durch die Führungsvereinbarung ursprünglich hergestellte „gemeinsame Klammer“ und damit die Notwendigkeit einer arbeitgeberübergreifenden Sozialauswahl.
Bildung eines Betriebsrats, Ansprechpartner des Betriebsrats
Maßgebliche Rechtsfolge eines Gemeinschaftsbetriebs in kollektivrechtlicher Hinsicht ist, dass die Arbeitnehmer einen gemeinsamen Betriebsrat wählen können (§ 1 Abs. 1 S. 2 BetrVG). Durch den unternehmensübergreifenden einheitlichen Leitungsapparat entsteht auf Arbeitgeberseite ein neues „Bezugssubjekt“ für die Belegschaft, das deren einheitliche Repräsentation rechtfertigt. Der Betriebsrat des Gemeinschaftsbetriebs nimmt alle Aufgaben eines regulären Betriebsrats wahr. Örtliche Betriebsräte, die in den anderen Unternehmen bestehen, sind für den Gemeinschaftsbetrieb hingegen nicht zuständig. Für die Wahl zum Betriebsrat des Gemeinschaftsbetriebs gelten –wie bei gewöhnlichen Betriebsratswahlen – die §§ 7 ff. BetrVG.
Bei der Frage, welcher Arbeitgeber für den Betriebsrat des Gemeinschaftsbetriebs der richtige Ansprechpartner ist, ist hingegen zu differenzieren: Bei reinen Payroll-Themen (z.B. Betriebliche Lohngestaltung, Ein- und Umgruppierung, Pflicht zum Abschluss eines Sozialplans) ist ausschließlich der jeweilige Vertragsarbeitgeber zuständiger Ansprech- und Verhandlungspartner für den Betriebsrat. Bei allen anderen Themen sind dagegen grundsätzlich alle am Gemeinschaftsbetrieb beteiligten Unternehmen Adressaten der Mitbestimmung des Betriebsrats.
Fazit
Gemeinschaftsbetriebe bieten Gestaltungsmöglichkeiten für die Praxis, deren Vor- und ggf. Nachteile sorgfältig abzuwägen sind. Da Gemeinschaftsbetriebe in der Praxis allerdings sehr häufig unbewusst bzw. zunächst unentdeckt entstehen (z.B. bei gemeinsamer Nutzung einer Personalabteilung oder von Betriebsmitteln) und ihre Rechtsfolgen mitunter folgenschwer sein können, sollten die betrieblichen Abläufe bei unternehmensübergreifender Zusammenarbeit kritisch geprüft und ggf. angepasst werden, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden.