Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Im Rahmen einer Überprüfung erhob eine italienische Zollbehörde gegen U.I. Srl, das bei den Abgaben zahlreicher Einfuhranmeldungen als indirekter Vertreter eines einführenden Unternehmens aufgetreten war, EUSt nach. Die Zollbehörde war der Ansicht, dass U.I. Srl nach den Vorschriften des Zollkodex der Union (UZK) gesamtschuldnerisch für die Entrichtung dieser Steuer mit dem einführenden Unternehmen hafte. Dagegen erhob U.I. Srl Klage beim zuständigen italienischen Finanzgericht in Venedig. Das Gericht hatte Zweifel an der Auslegung des EU-Zollrechts (Art. 77 Abs. 3 UZK) und ebenfalls an der Auslegung der Vorschriften der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (Art. 201 MwStSystRL) und legte dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
„Ist Art. 201 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie, der bestimmt, dass bei der Einfuhr… die Mehrwertsteuer von der Person oder den Personen geschuldet wird, die der Mitgliedstaat der Einfuhr als Steuerschuldner bestimmt oder anerkennt, dahin auszulegen, dass diesem der Erlass einer staatlichen Norm auf dem Gebiet der Einfuhrmehrwertsteuer (…) obliegt, die ausdrücklich die zur entsprechenden Zahlung verpflichteten Personen bezeichnet?
Ist der Einfuhrzollschulden betreffende Art. 77 Abs. 3 des Zollkodex, wonach bei indirekter Vertretung … auch die Person Zollschuldner ist, in deren Auftrag die Zollanmeldung abgegeben wird, dahin auszulegen, dass der indirekte Vertreter nicht nur für die Zölle, sondern auch für die Einfuhrmehrwertsteuer nur deshalb haftet, weil er „Zollanmelder“ im eigenen Namen ist?“
Entscheidungsgrundsätze des Gerichts
Mit Urteil vom 12.05.2022 (Rs. C-714/20 - U.I.Srl gegen Agenzia delle dogane e dei monopoli - Ufficio delle dogane di Venezia) kam der EuGH zu folgenden Ergebnissen:
1. Der indirekte Vertreter schuldet allein die Zölle für die von ihm angemeldeten Waren zum freien Verkehr nach dem EU-Zollrecht
Der EuGH hat entschieden, dass der indirekte Vertreter nach dem EU-Zollrecht sowohl ausdrücklich als auch aus dem Zusammenhang und mit den Zielen der einschlägigen EU-Zollvorschriften ausschließlich die Zölle und nicht auch die EUSt schuldet. Der EuGH stellt klar, dass der mit Vertretungsvollmacht beauftragte indirekte Zollvertreter, indem er damit seine Absicht erklärt, im eigenen Namen zu handeln, als „Anmelder“ im Sinne des EU-Zollrechts (Art. 5 Nr. 15 UZK) auftritt. So ergibt sich ausdrücklich aus Art. 77 Abs. 3 UZK, dass der Anmelder Zollschuldner wird und bei indirekter Vertretung auch die Person, in deren Auftrag die Zollanmeldung abgegeben wird. Aber aus dem Zusammenhang und den Zielen dieser Vorschrift ergibt sich, dass sie allein die Zollschuld und nicht auch die EUSt-Schuld betrifft. Art. 77 Abs. 3 UZK befindet sich nämlich in Abschnitt I des UZK, der mit dem Begriff „Einfuhrzollschuld“ betitelt ist. Dieser Abschnitt gehört wiederum zum Kapitel 1 „Entstehen der Zollschuld“, das zum Titel III „Zollschuld und Sicherheitsleistung“ gehört. Zollschuldner ist im UZK definiert als die Person, die zur Erfüllung der Zollschuld verpflichtet ist (Art. 5 Nr. 19 UZK). Auch Art. 84 UZK, der die gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Zollschuldner regelt, bezieht sich ausdrücklich auf die Zollschuld, die in Art. 5 Nr. 18 UZK als die Verpflichtung einer Person, den aufgrund der geltenden zollrechtlichen Vorschriften für eine bestimmte Ware vorgesehenen Betrag der Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben zu entrichten, definiert ist. Art. 5 Nr. 20 UZK fasst unter „Einfuhrabgaben“ die bei der Einfuhr zu entrichtenden Abgaben zusammen, es sind - wie es sich noch klarer aus der Vorgängerregelung des Art. 4 Nr. 10 Zollkodex (ZK) ergibt - in erster Linie die Zölle, nicht jedoch die EUSt. Schließlich verweist Art. 201 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie hinsichtlich der Verpflichtung zur Zahlung der EUSt nicht auf die Bestimmungen des Zollkodex, sondern sieht vor, dass diese Verpflichtung der Person oder den Personen obliegt, die vom Einfuhrmitgliedstaat bestimmt oder anerkannt werden.
2. Bestimmung des indirekten Vertreters als Einfuhrumsatzsteuerschuldner nach freiem Ermessen der Mitgliedstaaten
Die „Verknüpfung“ zwischen EUSt und Zöllen findet ihre Grundlage in der Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Diese ermächtigt die Mitgliedstaaten, den Zeitpunkt der Entstehung der EUSt-Schuld mit der Zollschuldentstehung zu verknüpfen (Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL). Darüber hinaus räumt sie ihnen ein Ermessen zur Bestimmung des EUSt-Schuldners ein (Art. 201 MwStSystRL). Aus dem Wortlaut des Art. 201 MwStSystRL ergibt sich ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten den Steuerschuldner (oder mehrere Steuerschuldner) der EUSt bestimmen bzw. anerkennen müssen. Zudem verweist der EuGH hier auch auf den Grundsatz der Rechtssicherheit. Dieser verlangt, dass Rechtsvorschriften vor allem dann klar bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sein müssen, wenn sie für Einzelne und Unternehmen nachteilige Folgen haben können. Daraus zieht der EuGH den Schluss, dass der indirekte Zollvertreter für die Zahlung der von einem Mitgliedstaat vorgesehenen EUSt auch gesamtschuldnerisch mit dem Vertretenen nur dann EUSt-Schuldner sein kann, wenn es im nationalen Recht klar und eindeutig bestimmt ist.
Hinweis: Die Entscheidung des EuGH steht im Einklang mit dem EU-Zollrecht und der Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Damit wird klargestellt, dass der indirekte Zollvertreter im Falle der Überlassung von Einfuhrwaren in den zollrechtlich freien Verkehr eines Mitgliedstaates lediglich (zusammen mit dem Vertretenen) die Zölle schuldet. Für seine Anerkennung als Schuldner der EUSt ist eine entsprechende klare und ausdrückliche Bestimmung im jeweiligen Recht des Einfuhr-Mitgliedstaates erforderlich. Im Ausgangsverfahren ging es um einen Rechtsstreit wegen der Zahlung der EUSt in Italien. Für die Frage, ob der indirekte Vertreter EUSt-Schuldner ist, war daher das italienische Recht maßgebend. Nach dem deutschen Recht gilt für die Bestimmung des EUSt-Schuldners eine sinngemäße Anwendung der Vorschriften für Zölle (§ 13a Abs. 2 iVm § 21 Abs. 2 UStG). Dies bedeutet, dass Art. 77 Abs. 3 UZK sinngemäß anzuwenden ist. Im Lichte der hiesigen EuGH-Entscheidung entspricht u. E. der bloße Verweis auf die Bestimmungen der EU-Zollvorschriften hinsichtlich der Verpflichtung zur Zahlung der EUSt im deutschen Umsatzsteuerrecht nicht der Regelung des Art. 201 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Nach dieser Vorschrift ist die Person bzw. sind die Personen, die zur Zahlung der EUSt verpflichtet sind, ausdrücklich und eindeutig als Schuldner dieser Steuer zu bestimmen oder anzuerkennen. Eine solche ausdrückliche und eindeutige Bestimmung des Steuerschuldners hat der deutsche Gesetzgeber in § 13a Abs. 2 UStG für den indirekten Zollvertreter aber gerade nicht getroffen. Der in dieser Vorschrift enthaltene bloße Verweis auf § 21 Abs. 2 UStG, der wiederum auf die Zollvorschriften verweist, dürfte nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils nicht ausreichend bestimmt sein, um den indirekten Zollschuldner als Schuldner der EUSt einzuordnen. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass der indirekte Vertreter allein die Zölle, nicht jedoch die EUSt schuldet. Aus dem deutschen Blickwinkel mag diese Entscheidung nicht zu einer erheblichen Änderung in der Unternehmenspraxis führen; dies deshalb, weil es in Deutschland keine Verknüpfungen gibt zwischen Zollanmelder und Vorsteuerabzugsberechtigtem. Der Vorsteuerabzugsberechtigte ist derjenige, der die Waren für sein Unternehmen einführt, d.h. derjenige, der zum Zeitpunkt der Überlassung in den freien Verkehr die Verfügungsmacht über diese Ware besitzt (Eigentümer bzw. vergleichbare Position). Das ist im Falle der indirekten Vertretung grundsätzlich die Person, die durch den indirekten Vertreter vertreten wird. Der indirekte Vertreter ist allein Zollanmelder, d. h. eine Person, die dazu in der Lage ist, eine Ware bei der zuständigen Zollstelle zu gestellen oder gestellen zu lassen und alle Unterlagen, die für das jeweilige beantragte Zollverfahren erforderlich sind, vorzulegen. Meistens hat der Zollvertreter mit dem Vertretenen, der im Regelfall den Vorsteuerabzug geltend machen kann, vereinbart, dass die zu entrichtenden Einfuhrabgaben (Zölle und EUSt) im Voraus bzw. zum Zeitpunkt der Steuerschuldentstehung vom Vertretenen auszugleichen sind. In anderen EU-Mitgliedstaaten gibt es demgegenüber durchaus Verknüpfungen zwischen Zollanmelder und Vorsteuerabzugsberechtigtem und wenn diese nicht personenidentisch sind, wird der Vorsteuerabzug verwehrt. In diesem Fall könnte das Urteil eine weitreichendere Bedeutung in den EU-Staaten haben, in denen das nationale Recht den indirekten Vertreter als EUSt-Schuldner nicht klar bestimmt.