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Kindergeld: Gendefekt als Behinderung?

FG Köln 12.1.2017, 6 K 889/15

Nach BFH-Recht­spre­chung muss nur die Be­hin­de­rung vor Voll­en­dung des 27. Le­bens­jah­res ein­ge­tre­ten sein, nicht aber die da­durch be­dingte Unfähig­keit zum Selbst­un­ter­halt. Ein Gen­de­fekt kommt durch­aus als Be­hin­de­rung i.S.d. § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 u. 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG in Be­tracht, auch wenn sich das Kind bis zum Er­rei­chen der Al­ters­grenze selbst un­ter­hal­ten konnte.

Der Sach­ver­halt:
Die heute 48-jährige Toch­ter des Klägers lei­det an ei­ner sog. Myo­to­nen Dystro­phie Cur­sch­mann-Stei­nert. Hier­bei han­delt es sich um eine erb­li­che Mus­ke­ler­kran­kung, bei der es zu ei­ner lang­sam fort­schrei­ten­den Ab­nahme der Mus­kel­kraft bei gleich­zei­ti­gem Vor­lie­gen von sog. myo­to­nen Phäno­me­nen kommt. Dia­gnos­ti­ziert wurde die Krank­heit erst 1998, als eine Cou­sine ein stark be­hin­der­tes Kind zur Welt ge­bracht hatte und sich dar­auf­hin meh­rere Fa­mi­li­en­mit­glie­der ei­ner gen­tech­ni­schen Un­ter­su­chung un­ter­zo­gen. In den fol­gen­den Jah­ren verstärk­ten sich die Sym­ptome. Ihr seit 2005 gülti­ger Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis weist seit 2009 einen Grad der Be­hin­de­rung von 100% ver­bun­den mit den Merk­zei­chen G und aG aus.

Die Toch­ter ist ge­lernte Büro­kauf­frau. Sie war bis Mai 2010 bei ei­ner Firma im Emp­fang be­schäftigt. Ihr Ar­beits­verhält­nis en­dete durch eine be­triebs­be­dingte Kündi­gung. Die in der Fol­ge­zeit un­ter­nom­me­nen Be­wer­bun­gen führ­ten im Sep­tem­ber 2011 zu ei­ner Ein­stel­lung. Dort wurde ihr nach sie­ben Ta­gen gekündigt, weil sie die ihr über­tra­ge­nen Auf­ga­ben auf­grund ih­rer Geh­be­hin­de­rung nicht habe erfüllen können. Im Rah­men ei­ner Re­ha­bi­li­ta­ti­onsmaßnahme wurde ihr die Stel­lung ei­nes Ren­ten­an­trags emp­foh­len, in­fol­ge­des­sen ihr rück­wir­kend ab Ok­to­ber 2011 eine Rente we­gen vol­ler Er­werbs­min­de­rung be­wil­ligt wurde.

Im Au­gust 2014 be­gehrte der Kläger die Gewährung von Kin­der­geld für seine Toch­ter für die Zeit ab Ja­nuar 2010. Die­sen An­trag lehnte die Fa­mi­li­en­kasse mit der Begründung ab, dass die Be­hin­de­rung der Toch­ter nicht, wie von § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG ge­for­dert, vor Voll­en­dung des 27. Le­bens­jah­res ein­ge­tre­ten sei. Zwar sei sie mit einem Gen­de­fekt ge­bo­ren, die­ser habe aber erst we­sent­lich später zu ei­ner Be­hin­de­rung geführt.

Das FG gab der hier­ge­gen ge­rich­te­ten Klage statt. Al­ler­dings wurde we­gen grundsätz­li­cher Be­deu­tung die Re­vi­sion zu­ge­las­sen. Die Sa­che ist beim BFH un­ter dem Az. XI R 8/17 anhängig.

Die Gründe:
Gem. § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 u. 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG in der im Streit­zeit­raum gel­ten­den Fas­sung be­steht für ein volljähri­ges Kind ein An­spruch auf Kin­der­geld, wenn es we­gen körper­li­cher, geis­ti­ger oder see­li­scher Be­hin­de­rung außer­stande ist, sich selbst zu un­ter­hal­ten, und die Be­hin­de­rung vor Voll­en­dung des 27. Le­bens­jah­res ein­ge­tre­ten ist. Diese Vor­aus­set­zun­gen la­gen hier vor.

Die Toch­ter des Klägers ist be­hin­dert im vor­ge­nann­ten Sinne. Be­dingt durch die er­erbte Krank­heit führt ins­be­son­dere die hier­durch be­wirkte Mus­kel­schwäche in den Bei­nen dazu, dass ihre Gehfähig­keit und da­mit ihre Teil­habe am Le­ben in der Ge­sell­schaft dau­er­haft be­einträch­tigt ist. Dies wird vor al­lem durch ih­ren seit 2005 gülti­gen Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis be­legt, der seit 2009 einen Grad der Be­hin­de­rung von 100% ver­bun­den mit den Merk­zei­chen G und aG aus­weist.

In den vor­lie­gend strei­ti­gen Mo­na­ten war die Toch­ter des Klägers zu­dem außer­stande, sich selbst zu un­ter­hal­ten. Die­ses Un­vermögen be­ruhte auf ih­rer vor­ste­hend dar­ge­leg­ten Be­hin­de­rung. Hierfür sprach, dass der Toch­ter mit Wir­kung ab Ok­to­ber 2011 von der Deut­schen Ren­ten­ver­si­che­rung eine Rente we­gen vol­ler Er­werbs­min­de­rung be­wil­ligt wor­den war und dass sie, wie ihre kurze Tätig­keit im Sep­tem­ber 2011 ge­zeigt hatte, auch be­reits da­vor be­hin­de­rungs­be­dingt nicht in der Lage war, den an sie ge­stell­ten be­ruf­li­chen An­for­de­run­gen zu genügen.

Ent­ge­gen der An­sicht der Fa­mi­li­en­kasse war die Be­hin­de­rung der Toch­ter vor Voll­en­dung des 27. Le­bens­jah­res ein­ge­tre­ten. Dem stand zum einen nicht ent­ge­gen, dass die Krank­heit erst nach der Voll­en­dung des 27. Le­bens­jah­res dia­gnos­ti­ziert wor­den war. Denn in­so­weit kommt es auf den ob­jek­ti­ven Be­fund an und nicht auf des­sen Kennt­nis. Zum an­de­ren stand dem auch nicht ent­ge­gen, dass die Toch­ter vor Voll­en­dung des 27. Le­bens­jah­res nur leich­tere Sym­ptome der Krank­heit verspürt hatte, die erst im Jahr 2005 zur Zu­er­ken­nung ei­nes Schwer­be­hin­der­ten­aus­wei­ses geführt hat­ten. Denn nach BFH-Recht­spre­chung muss nur die Be­hin­de­rung vor Voll­en­dung des 27. Le­bens­jah­res ein­ge­tre­ten sein, nicht aber die da­durch be­dingte Unfähig­keit zum Selbst­un­ter­halt. Als Be­hin­de­rung i.S.d. Vor­schrift war hier der Gen­de­fekt als sol­cher an­zu­se­hen.

Al­ler­dings wurde die Re­vi­sion zu­ge­las­sen, da die Frage, ob die Be­hin­de­rung der Toch­ter des Klägers i.S.d. § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, 2. Hs. EStG vor Voll­en­dung des 27. Le­bens­jah­res ein­ge­tre­ten war, grundsätz­li­che Be­deu­tung hat.

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