Der Sachverhalt:
Der in Deutschland wohnende Kläger ist von seiner früheren Ehefrau, die zusammen mit dem im April 2000 geborenen gemeinsamen Sohn in Polen lebt, geschieden. Er bezog im streitigen Zeitraum (Januar 2011 bis Oktober 2012) zunächst Arbeitslosengeld. Von November 2011 bis zum 11.1.2012 sowie vom 1. bis zum 22.2.2012 war er in Deutschland nichtselbständig beschäftigt, danach bezog er Leistungen nach dem SGB II.
Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt und verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für den Sohn ab Januar 2011 zu gewähren. Gegen die Entscheidung des FG wendet sich die Familienkasse mit ihrer Revision. Der BFH setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH hinsichtlich der sog. Wohnsitzfiktion verschiedene Fragen zur Vorabentscheidung vor. Nach dem Urteil des EuGH hob der BFH das Urteil des FG auf und wies die Klage ab.
Die Gründe:
Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld dem Kläger zusteht. Vielmehr hat die in Polen lebende Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld.
Der Anspruch auf Kindergeld nach den Vorschriften des EStG setzt gem. § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG u.a. voraus, dass der Berechtigte einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Kindergeldrechtlich zu berücksichtigen sind u.a. Kinder, die - wie der Sohn des Klägers - einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der EU haben. Vorliegend sind die Anspruchsvoraussetzungen nach den nationalen Rechtsvorschriften in der Person des Klägers und nicht in der seiner geschiedenen Ehefrau erfüllt. Letztere lebt in Polen und hat in Deutschland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt.
Dennoch ist die Kindsmutter vorrangig anspruchsberechtigt. Denn nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Die Vorschrift ist anzuwenden, da gem. Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter zusammen mit dem Sohn in einem eigenen Haushalt in Deutschland lebt - eine unionsrechtliche Vereinheitlichung der nationalen Regelungen zur sozialen Sicherheit. Danach ist bei Ansprüchen auf Familienleistungen in grenzüberschreitenden Sachverhalten die gesamte Familie so zu behandeln, als würde sie in dem Mitgliedstaat wohnen, dessen Familienleistungen beansprucht werden (Wohnsitzfiktion).
Da das deutsche Kindergeldrecht nicht danach unterscheidet, ob die Eltern eines Kindes verheiratet sind oder nicht, ist auch die geschiedene Ehefrau Familienangehörige. Somit gilt sie als mit dem Kind in Deutschland lebend. Damit steht ihr der Anspruch auf Kindergeld zu, da nach deutschem Recht das Kindergeld bei getrennt lebenden Eltern vorrangig an den Elternteil ausgezahlt wird, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Der EuGH bestätigte insoweit in seinem Urteil vom 22.10.2015 (C-378/14, Rechtssache Trapkowski), dass die Wohnsitzfiktion zu einem Wechsel der persönlichen Anspruchsberechtigung von dem in Deutschland lebenden Elternteil zu dem im EU-Ausland lebenden anderen Elternteil führen kann. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn der im EU-Ausland lebende Elternteil keinen Antrag auf deutsches Kindergeld gestellt hat.
Hintergrund:
Inhaltsgleich hat der BFH in einem zweiten Urteil vom 10.3.2016 (III R 62/12) entschieden. Hier lebten die beiden Töchter des in Deutschland wohnenden Klägers bei ihrer in Griechenland lebenden Großmutter. Nach deutschem Recht kann ein Anspruch auf Kindergeld auch einem Großelternteil zustehen, der sein Enkelkind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Der BFH folgte auch hier dem EuGH-Urteil Trapkowski. Somit war auch hier zu fingieren, dass die Großmutter mit ihren beiden Enkelinnen in Deutschland lebte. Ein Anspruch auf Kindergeld steht somit ihr zu und nicht dem Kläger.
Linkhinweis:
- Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des BFH veröffentlicht.
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