Der Sachverhalt:
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und der leibliche Vater der beiden Kinder A (geb. 1995) und B (geb. 1996). Seit April 1999 ist er als Beamter in X beschäftigt. Er wohnt mit seiner Ehefrau und einem gemeinsamen Kind, geboren im Januar 2005, in Y. Die nicht unbeschränkt steuerpflichtige Kindsmutter ist zyprische Staatsangehörige, lebt seit Juli 2004 in Zypern, ist dort erwerbstätig und hat A und B in ihren Haushalt aufgenommen. Die Ehe des Klägers und der Kindsmutter ist im Mai 2004 geschieden worden.
Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Auf die Revision der Familienkasse hob der BFH das Urteil auf und verwies die Sache an das FG zurück.
Die Gründe:
Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld dem Kläger zusteht. Vielmehr hat die in Zypern lebende Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld.
Der Kläger erfüllte im Streitzeitraum die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld. Er hatte seinen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG); die im Streitzeitraum minderjährigen Kinder A und B sind bei ihm zu berücksichtigen (§ 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG; § 63 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG). Dass beide Kinder ihren Wohnsitz in Zypern hatten, ist für die Kindergeldberechtigung unerheblich (§ 63 Abs. 1 S. 3 EStG in der bis Ende 2014 geltenden Fassung). Allerdings ist die Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 S. 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Sie ist als weitere "Berechtigte" i.S.v. § 64 EStG anzusehen. Ihre Berechtigung ergibt sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009, wonach zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter mit beiden Kindern in Deutschland wohnt.
Nach Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Der EuGH hat entschieden, dass die in Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind.
Dem folgend hat der BFH entschieden, dass die Anwendung von Art. 67 S. 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 dazu führt, dass die Wohnsituation der im EU-Ausland lebenden Familienangehörigen (fiktiv) in das Inland übertragen wird, d.h. die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Unbeachtlich sei, ob dem in einem anderen Mitgliedstaat lebenden Familienangehörigen nach den dort geltenden Vorschriften ein Anspruch auf Familienleistungen zustehe und damit eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben sei. Zu den "beteiligten Personen" i.S.d. Art. 60 Abs. 1 S. 2 der VO Nr. 987/2009 gehöre auch der andere Elternteil, da dieser nach nationalem Recht gem. § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG berechtigt sei, für seine leiblichen Kinder Anspruch auf Kindergeld zu erheben, und deshalb als Familienangehöriger i.S.d. Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004 anzusehen sei. Dem schließt sich der erkennende Senat an.
Die Anwendung der unionsrechtlichen Fiktion führt im Streitfall dazu, dass für Zwecke der Anwendung von § 64 EStG zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter zusammen mit beiden Kindern in einem Haushalt in Deutschland lebt. Die Kindsmutter erfüllt auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch. Dem Kindergeldanspruch der Kindsmutter steht auch nicht entgegen, dass das Kindergeld in erster Linie der steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums eines Kindes einschließlich der Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung (§ 31 S. 1 EStG) dient. Dieser Zweck wird auch durch die in § 32 Abs. 6 EStG vorgesehenen Freibeträge verwirklicht, die der Kläger geltend machen kann.
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