Herr Koidl, Sie haben die Europäische Bürgerinitiative GreenVAT ins Leben gerufen. Was genau verbirgt sich hinter dieser Initiative und was wollen Sie damit auf europäischer Ebene erreichen?
Roman Maria Koidl: Die Europäische Bürgerinitiative ist ein Instrument auf Ebene der Europäischen Kommission, das allen Bürgern eine Mitsprache bei der Gesetzgebung in der Europäischen Union ermöglicht. Jeder EU-Bürger kann eine Initiative starten und damit die Kommission auffordern, bei einem bestimmten Thema aktiv zu werden.
Grundlage ist das Initiativrecht der Europäischen Kommission, die selbst eine Gesetzesinitiative in das europäische Parlament einbringen kann. Der Vorteil einer Bürgerinitiative ist, dass sie bei Erfolg EU-weit Wirkung entfalten kann, denn die Mitgliedstaaten der Union müssen die Vorgaben der EU binnen einer vorgegebenen Frist umsetzen. In unserem Fall würde das bedeuten, dass Europa eine GreenVAT, eine grüne Mehrwertsteuer auf ökologische, umweltfreundliche und nachhaltige Produkte erhielte.
Warum können Mehrwertsteuerermäßigungen für ökologische, nachhaltig erzeugte und umweltfreundliche Erzeugnisse einen Beitrag zur Abmilderung des Klimawandels leisten?
Dr. Sandro Nücken: Im Mehrwertsteuerrecht können Steuerermäßigungen hauptsächlich über ermäßigte Steuersätze oder Steuerbefreiungen gewährt werden. Werden diese Ermäßigungen für nachhaltige Produkte gewährt, ist die Erwartung, dass sich der Verbraucher eher für diese Produkte entscheidet. Das kommt dann grundsätzlich auch der Umwelt zugute. Das EU-Mehrwertsteuerrecht, das Grundlage für unser nationales Umsatzsteuerrecht ist, hat den Gedanken der Nachhaltigkeit bislang kaum berücksichtigt. Mit der neuen EU-Richtlinie hat die EU hier jetzt aber gegengesteuert. Sicherlich wird in diesem Bereich in Zukunft noch mehr passieren. Bei den meisten Produkten und Dienstleistungen macht es ja hinsichtlich der Mehrwertsteuer bislang keinen Unterschied, ob sie Kriterien der Nachhaltigkeit erfüllen oder nicht. Der jüngste Vorstoß der Bundesregierung zu einer möglichen Anpassung der Mehrwertsteuer bei Lebensmitteln nach deren „Klimafreundlichkeit“ zeigt, dass hier noch weitere Ideen bestehen. Im Rahmen eines umfassenden Klimaschutzes wird sich eine stärkere Ausrichtung der Mehrwertsteuer an Klimaschutzaspekten meines Erachtens auch kaum vermeiden lassen.
Als Unternehmer, Publizist und Kunstmäzen sind Sie, Herr Koidl, in unterschiedlichsten Themengebieten und Branchen aktiv. Wie kam es zu der Idee für diese Initiative und was waren Ihre Beweggründe dafür, diese Idee auch tatsächlich umzusetzen?
Roman Maria Koidl: Wir erleben gegenwärtig, dass Mehrwertsteuersenkungen ein probates Mittel der Folgenlinderung von Krisen darstellen, zuletzt während der Corona-Pandemie. Warum sollte man die Umsatzsteuer nicht EU-weit als Lenkungssteuer einsetzen, um beim Thema Umweltschutz und dem ökologischen Wandel Fortschritte zu erzielen? Die Europäische Union verfolgt mit dem Green Deal das ehrgeizige Ziel, bis 2050 CO2-neutral zu werden, also CO2-Emissionen vollständig zu kompensieren. Eine Senkung der Umsatzsteuersätze für sog. „grüne“ Produkte könnte zu einem Umdenken der Verbraucher führen. Umweltfreundliche und nachhaltige Produkte würden verstärkt nachgefragt. Verbraucher, die immer schon bewusst eingekauft haben, würden durch die effektiven Preissenkungen entlastet. Die Idee zu dieser Initiative entsprang dem Gegenstand meines Unternehmens eClear, das eCommerce-Händlern automatisierte Lösungen zur Meldung von Umsatzsteuer bei grenzüberschreitendem B2C-Geschäft anbietet. In Europa bestehen keine einheitlichen Regeln hinsichtlich der Umsatzsteuersätze. Vielmehr hat jeder Mitgliedstaat eigene, teilweise sehr kleinteilige Regelungen hinsichtlich der Höhe der zu bemessenden Umsatzsteuer. Dazu kommen hunderttausende von Ausnahmetatbeständen. Die Gemeinsamkeit besteht in der Tatsache, dass die Umsatzsteuer in jedem Mitgliedstaat der EU bemessen wird. Heutzutage bieten Datenbanken Steuersätze „real time“ an. Damit entfällt der Schrecken hinsichtlich der Folgekosten für Unternehmen im Falle von Änderungen. Granularität (hinsichtlich Produkte und Dienstleistungen) und Aktualität (z. B. temporäre Reduzierungen) bei Umsatzsteuersätzen stellen keine Hindernisse mehr dar. An der Tatsache, dass die Umsatzsteuer insofern zu einem Lenkungsinstrument der Politik werden wird, habe ich nicht den geringsten Zweifel.
Und an welchem Punkt dieses Prozesses steht die Bürgerinitiative GreenVAT aktuell? Welche Hürden gilt es noch zu meistern?
Roman Maria Koidl: Zunächst galt es, das - per Verordnung vorgeschriebene - Team von mindestens sieben Organisatoren zusammenzustellen. Diese müssen alle Europäer sein und ihren Wohnsitz in sieben unterschiedlichen europäischen Mitgliedstaaten haben. Vor Veröffentlichung einer Bürgerinitiative prüft die EU-Kommission, ob sie auch die entsprechende Gesetzgebungskompetenz innehat und ob das Anliegen der Initiatoren nicht lediglich einem kommerziellen Zweck dient. Wird eine Bürgerinitiative gestartet, haben die Organisatoren ein Jahr Zeit, mindestens eine Million Unterschriften zu sammeln.
Um die Bürger Europas zur Unterschrift zu bewegen, müssen sie von der Initiative erfahren und das geht nur durch den Gang in die Öffentlichkeit. Deshalb freue ich mich über jede Unterstützung, wie auch von Ebner Stolz. Aber auch der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Chris Kühn, unterstützt die Initiative.
Vorausgesetzt, die Bürgerinitiative hat Erfolg und es geht dann an die Umsetzung. Wie können die Forderungen in das aktuelle EU-Mehrwertsteuerrecht integriert werden und was würde das für die Mitgliedstaaten bedeuten? Muss das dann in allen Mitgliedstaaten entsprechend umgesetzt werden?
Dr. Sandro Nücken: Bei Erfolg der Initiative käme es im besten Fall zu einem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission, der die Forderungen der Initiative konkretisiert. Sofern man sich auf EU-Ebene dann auf eine endgültige Richtlinie zum Thema Green VAT einigt, wären die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Hier liegt der Teufel aber im Detail. Es wird darauf ankommen, worauf sich die Mitgliedstaaten einigen können und ob für bestimmte Mitgliedstaaten wieder Ausnahmerechte akzeptiert werden müssen. Auch ist denkbar, dass die Mitgliedstaaten nicht alle Richtliniennormen umsetzen müssen, sondern in gewissen Bereichen Wahlrechte bestehen. So etwas kennen wir aus der aktuellen Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie. Auch Übergangsregelungen werden eine Rolle spielen.
Und welche Auswirkungen hätte dies für Unternehmen?
Roman Maria Koidl: Unternehmer haben nur Erfolg, wenn das von ihnen angebotene Produkt Absatz findet. Dabei spielt der Preis eines Produktes immer eine wesentliche Rolle. Reduzierte Umsatz- bzw. Mehrwertsteuersätze würden zu einer Angleichung der Preise von „grünen“ und konventionellen Produkten führen. Kostet ein nachhaltiges Produkt weniger als ein konventionelles Produkt, beeinflusst dies natürlich die Kaufentscheidung des Verbrauchers.
Dr. Sandro Nücken: Meines Erachtens ist es durchaus denkbar, dass die Mehrwertsteuer zukünftig auch als übergreifender Indikator für die Klima- und Umweltfreundlichkeit eines Unternehmens herangezogen wird. Das könnte z. B. bei ESG- oder CSR-Reportings eine Rolle spielen. Maßstab wäre dann, welchen Anteil steuersatzermäßigte oder steuerbefreite Leistungen an den Gesamtleistungen des Unternehmens haben. Je höher, desto besser für die Nachhaltigkeitsratings. Ob so etwas tatsächlich kommt, wird man sehen müssen. Das Thema Green VAT wird aber im Unternehmensalltag in Zukunft sicherlich immer wichtiger werden.
Werfen wir einen Blick über die Bürgerinitiative hinaus auf weitere Maßnahmen der EU im Bereich Klimaschutz und Nachhaltigkeit: Diese verfolgt das Ziel, als erster Kontinent bis 2050 klimaneutral zu sein. Gibt es bereits konkrete Pläne, wie dieses Ziel im Steuerrecht, insb. im Bereich der Mehrwertsteuer, umgesetzt werden kann?
Dr. Sandro Nücken: Einen echten Masterplan hat die EU hierfür bislang nicht vorgestellt. Das bisherige Vorgehen war eher einzelfallbezogen und könnte als „Politik der kleinen Schritte“ bezeichnet werden. Mit der neuen Richtlinie sind einige Themen im Bereich der Mehrwertsteuer umgesetzt worden. So können die Mitgliedstaaten die Installation von Solarpanelen und den Verkauf von E-Bikes und Fahrrädern jetzt dem ermäßigten Steuersatz unterwerfen. Wir kennen dieses Vorgehen der kleinen Schritte aus anderen Bereichen der Mehrwertsteuer. Das grundlegende Problem ist, dass in der Regel ein Konsens zwischen allen EU-Mitgliedstaaten erreicht werden muss, was vielfach ein schwieriges Unterfangen ist. Das Handeln auf EU-Ebene im Bereich der Mehrwertsteuer setzt daher zumeist nur den kleinsten gemeinsamen Nenner um. Eine umfassende Reform des EU-Mehrwertsteuersystems in Richtung eines ökologischen Steuersystems sehe ich im Moment nicht.
Inwiefern können solche steuerlichen Maßnahmen nach Ihrer Einschätzung einen Einfluss auf den Wandel der Wirtschaft hin zu mehr Klima- und Umweltschutz haben und welche Maßnahmen halten Sie für besonders wirkungsvoll?
Roman Maria Koidl: Produzenten orientieren sich immer an ihren Konsumenten. In den vergangenen Jahren konnte man bereits einen deutlichen Trend zu nachhaltiger Produktion und ökologischen Produkten erkennen. Die Verbraucher wollen das, selbst Airlines werden von ihren Kunden gefragt: „Was tut ihr im Bereich Nachhaltigkeit“? Würden durch Steuersenkungen nachhaltige Produkte verstärkt konsumiert, wird die Wirtschaft selbstverständlich nachziehen und mehr in Forschung sowie umweltfreundliche und nachhaltige Produktion und Produkte investieren. Eine Win-Win-Situation für alle.
Dr. Sandro Nücken: Natürlich sind Lenkungssteuern umstritten und ich halte sie auch nicht immer für zielführend. Die vorübergehende Mehrwertsteuersenkung im zweiten Halbjahr 2020 angesichts der Corona-Pandemie hat uns gezeigt, dass kurzfristige Lenkungsmaßnahmen durch das Steuerrecht häufig mehr Schaden anrichten, als sie nutzen. Bei dem Thema Klima- und Umweltschutz sehe ich das aber anders. Hier geht es um ein langfristiges Thema, das nicht nur mit kurzfristigen Maßnahmen angegangen werden kann. In allen Gesellschaftsbereichen müssen Anreize zum Klimaschutz verankert werden und dazu gehört meines Erachtens auch das Steuerrecht. Gerade die Mehrwertsteuer drängt sich aufgrund ihrer enormen Aufkommensstärke und Breitenwirkung hier auf. Außerdem haben Steuersatzermäßigungen generell auch immer einen stark psychologischen Effekt auf die Wirtschaftsteilnehmer. Hinzu kommt, dass auch die mediale Aufmerksamkeit häufig hoch ist, wenn es um Steuersatzreduzierungen geht. Insofern glaube ich schon, dass das Mehrwertsteuerrecht einen Einfluss hin zu einer nachhaltigeren Wirtschaft ausüben kann.