Hintergrund
Zwei gemeinnützige Organisationen stellten bei der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU der EU-Kommission einen Antrag auf Zugang zu vier vom europäischen Komitee für Normung (CEN) angenommenen harmonisierten technischen Normen bezüglich der Sicherheit von Spielzeug im Besitz der EU-Kommission. Ihren Antrag stützten sie insbesondere auf Art. 2 der Transparenzverordnung (VO [EG] 1049/2001) sowie auf Vorschriften der Verordnung über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Århus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Union (VO [EG] 1367/2006).
EU-Kommission: Kein Verstoß gegen die Transparenzverordnung
Die EU-Kommission lehnte den Antrag mit Beschluss vom 22.01.2019 im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass die angeforderten Normen urheberrechtlich geschützt seien und daher der Ausnahmetatbestand des Art. 4 Abs. 2 der Transparenzverordnung zum Schutz der geschäftlichen Interessen der europäischen Normierungsorganisationen, einschließlich des geistigen Eigentums vorliege und auch die Rückausnahme des Art. 4 Abs. 2 Halbsatz 2 der Transparenzverordnung bei Bestehen eines überwiegenden öffentlichen Interesses nicht erfüllt sei.
EuG: Bestätigung der EU-Kommission
Die daraufhin erhobene Klage zum Gericht der Europäischen Union (EuG), zielte darauf ab, die Nichtigerklärung des Beschlusses der EU-Kommission zu erreichen. Mit Urteil vom 14.07.2021 (Az. T-185/19) bestätigte der EuG jedoch den Beschluss der EU-Kommission.
Hinweis: Es argumentierte, dass die angeforderten Normen, die von den Normierungsorganisationen als private Einrichtungen ausgearbeitet werden, urheberrechtlich geschützt seien, weswegen sie interessierten Kreisen nur gegen Zahlung bestimmter Entgelte zugänglich seien. Die kostenlose Verbreitung dieser Normen auf Grundlage der Transparenzverordnung würde die geschäftlichen Interessen des CEN und seiner nationalen Mitglieder ernsthaft beeinträchtigen, da die Normierungsorganisationen trotz Erfüllung im öffentlichen Interesse liegender Aufgaben eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten. Zudem bestehe für die Veröffentlichung der harmonisierten Normen kein überwiegend öffentliches Interesse im Sinne des Art. 4 Abs. 2 Halbsatz 2 der Transparenzverordnung; das öffentliche Interesse an der Gewährleistung eines funktionierenden europäischen Normungssystems habe Vorrang vor der Gewährleistung des freien und unentgeltlichen Zugangs zu den harmonisierten Normen.
EuGH: Freie Zugänglichkeit europäischer Normen (EN)
Der EuGH gab nun den gemeinnützigen Organisationen Recht. Es rügte einen Rechtsfehler des EuG, das argumentiert hatte, dass kein überwiegend öffentliches Interesse an der Verbreitung der harmonisierten Normen bestehe.
Entgegen der Ansicht des EuG seien laut dem EuGH die angeforderten Normen, die sich im Besitz der EU-Kommission befinden, als Teil des Unionsrechts frei verfügbar zu machen; dies habe der EuGH bereits im „James Elliott“-Urteil vom 27.10.2016 (Az. C-613/14) entschieden. Danach seien harmonisierte Normen, die auf der Grundlage einer Richtlinie angenommen und deren Fundstellen im Amtsblatt der EU veröffentlicht wurden, aufgrund ihrer Rechtswirkungen Teil des Unionsrechts. Zwar werde mit der Ausarbeitung harmonisierter Normen eine privatrechtliche Einrichtung betraut, aber nur die Kommission sei befugt, die Ausarbeitung einer harmonisierten Norm zur Umsetzung einer Richtlinie oder einer Verordnung zu beauftragen, diese zu überwachen und zu finanzieren. Zudem gelte nach den einschlägigen Rechtsvorschriften der Union zur Harmonisierung eine Konformitätsvermutung für diejenigen Produkte, die diese Normen einhalten. Die von diesen Vorschriften verliehene Rechtswirkung stelle „eines der wesentlichen Merkmale dieser Normen dar und mache sie zu einem Werkzeug, das für die Wirtschaftsteilnehmer im Hinblick auf die Ausübung des Rechts auf freien Verkehr von Waren oder Dienstleistungen auf dem Unionsmarkt von wesentlicher Bedeutung ist“.
Der kostenlose Zugang zu den technischen Normen sei nach Auffassung des EuGH auch unmittelbare Folge des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, der Transparenz sowie der Offenheit, auf den sich die Union gründe. Dieser ermögliche es den EU-Bürgern und juristischen Personen mit Sitz in der Union, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erkennen sowie zu überprüfen, ob die Adressaten der von dem Gesetz aufgestellten Regeln diesen tatsächlich nachkommen oder ob ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung tatsächlich die Anforderungen einer solchen Vorschrift erfülle.
Auswirkungen des Urteils
Das Urteil stieß zwar bei europäischen Normierungsorganisationen auf heftige Kritik. Für Unternehmen, die die europäischen Normen nutzen müssen, bedeutet die kostenlose Zurverfügungstellung jedoch eine finanzielle Entlastung.