Aufgrund zweier EuGH-Vorlagebeschlüsse der beiden mit der Umsatzsteuer befassten Senate des BFH steht die deutsche Organschaftsregelung auf dem Prüfstand (siehe dazu bereits unseren Umsatzsteuer-Newsletter vom 28.08.2020). Abhängig von den Entscheidungen des EuGH könnte dies im besten Fall dazu führen, dass Organkreise die gesamte in der Vergangenheit an die Finanzverwaltung entrichtete Umsatzsteuer zurückverlangen können. Dies setzt selbstverständlich voraus, dass eine Anpassung der bisherigen Veranlagung verfahrensrechtlich noch möglich ist. Nunmehr gibt die Generalanwältin mit ihren Schlussanträgen eine Richtung vor.
Worum geht es?
Bereits mit Urteil vom 17.09.2014 (Rs. C-7/13, Skandia America, DStRE 2015, S. 354) hatte der EuGH entschieden, dass die Mehrwertsteuergruppe selbst als ein Steuerpflichtiger zu behandeln sei und die Steuer schulde und nicht der Organträger als ein Mitglied der Gruppe.
Nach der deutschen Regelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft wird hingegen ein Mitglied dieser Gruppe, konkret der Organträger, gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG als Steuerpflichtiger bestimmt, während die übrigen Mitglieder zu unselbständigen Teilen dieses Unternehmens des Organträgers werden und damit allein der Organträger die Unternehmereigenschaft besitzt.
Dies hatte der XI. Senat des BFH zum Anlass genommen mit Beschluss vom 11.12.2019 (Az. XI R 16/18, DStR 2020, S. 645) dem EuGH u. a. die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob es mit dem EU-Recht vereinbar sei, wenn nach den nationalen Regelungen statt der Mehrwertsteuergruppe ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe zum Steuerpflichtigen bestimmt werden kann.
Der V. Senat des BFH hatte selbst keine Zweifel daran, dass eine der Personen im Organkreis (nach Auffassung des V. Senats der Organträger) Steuerpflichtiger für alle Umsätze der Personen sein kann. Allerdings sah er sich aufgrund der EuGH-Vorlage des XI. Senats des BFH zur Anrufung des EuGH gezwungen. Daher legte er dem EuGH mit Beschluss vom 07.05.2020 (Az. V R 40/19, DStR 2020, S. 1367) u .a. die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Behandlung von eng miteinander verbundenen Personen als ein Steuerpflichtiger zwingend dazu führen muss, dass über die Mehrwertsteuergruppe eine eigens für Mehrwertsteuerzwecke fiktive Einrichtung zu schaffen sei, selbst wenn dafür erhebliche Steuerausfälle in Kauf zu nehmen wären.
Positionierung durch die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen
Mit ihren Schlussanträgen vom 13.01.2022 hat die Generalanwältin Laila Medina zu den Vorlagefragen des XI. Senats in der Rs. C-141/20 und vom 27.01.2022 zu den Vorlagefragen des V. Senats in der Rs. C-269/20 Stellung genommen.
Im Kern hält sie die deutsche Regelung der umsatzsteuerlichen Organschaft für nicht EU-rechtskonform. So sei die entsprechende EU-Regelung dahingehend auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nur das die Gruppe beherrschende Mitglied – das über die Mehrheit der Stimmrechte und über eine Mehrheitsbeteiligung am beherrschten Unternehmen in der Gruppe der steuerpflichtigen Personen verfügt – unter Ausschluss der übrigen Mitglieder der Gruppe als Vertreter der Mehrwertsteuergruppe und als Steuerpflichtigen dieser Gruppe bestimmt (Schlussanträge vom 13.01.2022, Rs. C-141/20).
Dementsprechend stehe das Gemeinschaftsrecht nationalen Regelungen entgegen, die vorsehen, dass nur die herrschende Gesellschaft der Mehrwertsteuergruppe als Steuerpflichtiger bestimmt wird, während die anderen Mitglieder der Gruppe als nicht steuerpflichtig gelten (Schlussanträge vom 27.01.2022, Rs. C-269/20).
Zudem hebt die Generalanwältin in diesem Verfahren die aus ihrer Sicht verwunderliche Verknüpfung der ersten Vorlagefrage mit dem Hinweis auf die Inkaufnahme von erheblichen Steuerausfällen durch den V. Senat hervor und betont, dass es hierauf nicht ankomme. So würden schon seit Jahren in der rechtwissenschaftlichen Literatur Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Regelung mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften diskutiert, so dass aus ihrer Sicht Deutschland genug Zeit für Maßnahmen zur Behebung dieser Problematik gehabt hätte (Schlussanträge vom 27.01.2022, Rs. C-269/20, Rz. 41 und 42).
Interessant, wenn auch vorliegend vermutlich für den EuGH nicht entscheidungserheblich, ist ein weiterer Aspekt, den die Generalanwältin in ihrem Schlussantrag vom 13.01.2022 aufgreift. Denn danach stellt sich die Frage, ob nach Ansicht der Generalanwältin Leistungen zwischen Organträger und Organgesellschaft gleichwohl der Umsatzsteuer zu unterwerfen sind. So kann das im Schlussantrag enthaltene Rechenbeispiel der EU-Kommission jedenfalls verstanden werden (Schlussanträge vom 13.01.2022, Rs. C-141/20, Rz. 71 bis 73). Nach den nationalen Regeln zur umsatzsteuerlichen Organschaft sind Leistungen innerhalb eines Organkreises als sog. Innenumsätze nicht steuerbar und lösen damit keine Umsatzsteuer und korrespondierende Vorsteuer aus. Ob der EuGH darüber entscheiden wird, ist fraglich, da ihm diese Frage von keinem der beiden Senate zur Entscheidung vorgelegt wurde.
Mögliche Praxisauswirkungen
Folgt der EuGH in den beiden Verfahren der Empfehlung der Generalanwältin und entscheidet, dass nur die Mehrwertsteuergruppe als ein Steuerpflichtiger angesehen werden kann, könnten deutsche Organträger nicht zur Abführung von Umsatzsteuer verpflichtet sein.
Steuerschuldner wäre nach den unionsrechtlichen Regelungen die Mehrwertsteuergruppe, wobei sich im deutschen Umsatzsteuergesetz keine entsprechende Regelung zu einem solchen Konstrukt findet. Organträger könnten sich dann unter Umständen auf das für sie höherrangige Unionsrecht berufen, mit der Folge, dass die entsprechenden Steuerfestsetzungen aufzuheben wären.
Die finanziellen Schäden für den Fiskus wären immens. Hierauf weist der V. Senat des BFH den EuGH in seinem – gegen die Argumente des XI. Senats des BFH plädierenden – Beschluss ausdrücklich hin: Die Gesamtheit der Organträger haben im Haushaltsjahr 2018 Umsatzsteuerzahlungen in Höhe von 234,8 Mrd. Euro geleistet.
Gewissheit über die EU-rechtliche Würdigung und die Folgewirkung auf die bestehenden und zukünftigen umsatzsteuerlichen Organkreise wird man erst haben, wenn die Entscheidungen des EuGH und die Folgeentscheidungen der beiden Senate des BFH in den beiden zugrundeliegenden Streitfällen ergangen sind. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Finanzverwaltung und Gesetzgeber - ähnlich den sog. Bauträgerfällen - versuchen werden, fiskalische Schäden abzuwenden.
Gleichwohl ist daher empfehlenswert, Umsatzsteuerveranlagungen für noch nicht festsetzungsverjährte Zeiträume gegenüber umsatzsteuerlichen Organträgern verfahrensrechtlich offen zu halten, um den Ausgang der EuGH-Verfahren abzuwarten. Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt, weitere Details hierzu können den nachstehenden Handlungsempfehlungen entnommen werden.
Schon heute reagiert die Finanzverwaltung auf Einsprüche gegen Umsatzsteuerfestsetzungen von Organträgern und zieht die Organgesellschaften gemäß § 360 Abs. 3 AO zum Einspruchsverfahren hinzu. Dies gilt unabhängig davon, ob die Einsprüche gegen die Umsatzsteuerfestsetzung unter Bezugnahme auf die beim EuGH anhängigen Verfahren begründet oder aus anderen Gründen eingelegt werden.
Blick in die Zukunft
Bereits seit mehreren Jahren wird eine gesetzliche Änderung der umsatzsteuerlichen Organschaft diskutiert und erste Entwürfe für eine sogenannte Gruppenbesteuerung verbunden mit einer gesamtschuldnerischen Haftung gefasst. Die Anträge der Generalanwältin erhöhen hier sicherlich den Handlungsdruck, zumindest in die Zukunft gerichtet die deutschen Regelungen zur umsatzsteuerlichen Organschaft zu reformieren. Ob und inwieweit hierbei auch der weitere von der Generalanwältin aufgegriffene Aspekt, dass Innenumsätze ebenfalls der Umsatzversteuerung zu unterwerfen sind, aufgegriffen wird, bleibt abzuwarten. Darüber würde das Konstrukt der Organschaft für viele Unternehmen mit Vorsteuerabzugsbeschränkungen weitere Kosten verursachen.
Was können / müssen Sie jetzt tun?
Kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass die deutsche Regelung unionsrechtswidrig ist, kann dies ggf. für umsatzsteuerliche Organschaften in Deutschland positive Auswirkungen haben.
Organträger könnten sich auf die Unionsrechtswidrigkeit der deutschen Regelung berufen und dann zu Unrecht geleistete Umsatzsteuerzahllasten zurückfordern.
Organträger sollten daher grundsätzlich die Umsatzsteuerfestsetzungen für den Organkreis offenhalten.
Aber Achtung: Dies gilt uneingeschränkt nur, wenn insgesamt im Organkreis Umsatzsteuerzahllasten bestehen. Bei Vorsteuerüberhängen würde ein Berufen auf die EU-Rechtswidrigkeit der Vorschrift zu keinem Vorteil führen.
Daher sollte für Jahre, in denen Zahllasten bestehen und der Vorbehalt der Nachprüfung noch besteht,
- ein Änderungsantrag nach § 164 Abs. 2 AO gestellt werden.
- Gegen einen ablehnenden Bescheid kann sodann Einspruch eingelegt und unter Bezugnahme auf die beim EuGH anhängigen Verfahren Ruhen des Verfahrens beantragt werden.
Soweit für Veranlagungszeiträume noch keine Umsatzsteuerjahreserklärungen oder diese innerhalb des letzten Monats übermittelt wurden, kann alternativ·
- Einspruch gegen die Umsatzsteuerveranlagung unter Verweis auf die anhängigen Verfahren eingelegt und
- Ruhen des Verfahrens beantragt werden.
Aussetzung der Vollziehung sollte hingegen nicht beantragt werden, da der Ausgang doch zu ungewiss ist und hierdurch Aussetzungszinsen ausgelöst würden.
Für Organgesellschaften besteht zunächst kein Handlungsbedarf
Im Fall eines Einspruchs durch den Organträger ist mit einer Hinzuziehung der Organgesellschaften zum Einspruchsverfahren nach § 360 Abs. 3 AO zu rechnen. Ein Einspruch hiergegen dürfte wenig Aussicht auf Erfolg bieten.
Sollte dann, abhängig von dem weiteren Verfahrensverlauf bei EuGH und BFH, gegen die Organgesellschaften Umsatzsteuer festgesetzt werden, können diese sich grundsätzlich auf die nationale Regelung (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) berufen, nach der ihre Umsätze beim Organträger zu erfassen sind und bei ihnen folglich keine Besteuerung stattfinden darf. Das weitere Vorgehen müsste dann allerdings in Abhängigkeit der gerichtlichen Entscheidungen und der verfahrensrechtlichen Situation bestimmt werden.
Eine Steuerfestsetzung gegen eine Mehrwertsteuergruppe ist vor dem Hintergrund der nationalen Regelung unwahrscheinlich. Sollte seitens der Finanzverwaltung ein solches Vorgehen gleichwohl erfolgen, könnten sich sowohl der Organträger als auch die Organgesellschaften darauf berufen, dass die Steuerschuld mangels nationaler Vorschrift nicht bei ihnen erhoben werden kann. Eine nachteilige, unmittelbare Anwendung der MwStSystRL auf einen „fiktiven“ Steuerpflichtigen in Form einer Mehrwertsteuergruppe sollte ebenfalls nicht möglich sein, da dieses Gebilde ohne nationale Regelung bisher nicht existiert.
Überprüfung bestehender Strukturen auf möglicherweise vorliegende Organschaften
Zudem sollten inländische Gruppen ihre Struktur auf mögliche unentdeckte Organschaften untersuchen und eine Einbeziehung bisher in der Organschaft nicht berücksichtigter Beteiligungen erwägen.
Einen Anknüpfungspunkt hierfür bietet beispielsweise die Entscheidung des EuGH vom 15.04.2021 (Rs. C-868/19, M-GmbH, DStR 2021, S. 915) zur Einbeziehung von Personengesellschaften. Darin hat der EuGH der bisher geltenden Verwaltungsauffassung widersprochen, wonach eine Personengesellschaft nur dann in das Unternehmen eines Organträgers eingegliedert sein kann, wenn neben der Personengesellschaft auch alle Gesellschafter in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sind (vgl. A 2.8 Abs. 5a Satz 1 UStAE). Denn nach Auffassung des EuGH ist es EU-rechtlich unzulässig, die Qualifikation einer Personengesellschaft als Organgesellschaft davon abhängig zu machen, dass an ihr keine anderen Personen als der Organträger sowie in dessen Unternehmen eingegliederte Personen beteiligt sind. Entscheidend ist vielmehr die Willensdurchsetzung auf Basis der Stimmrechtsverhältnisse.
Obgleich die Finanzverwaltung noch nicht auf die Entscheidung des EuGH reagiert hat, können schon jetzt unter Berufung auf die durch den EuGH aufgestellten Grundsätze Personengesellschaften mit Fremdgesellschaftern in die umsatzsteuerliche Organschaft einbezogen werden.
Fazit
Es bleibt spannend bei der umsatzsteuerlichen Organschaft. Wir werden Sie selbstverständlich hierüber auf dem Laufenden halten.