Herr Prof. Dr. Hennrichs, das Thema Nachhaltigkeit setzt sich aus den drei Bereichen Environmental, also Umwelt, Social, also Soziales wie Schutz der Arbeitnehmer im Unternehmen und in der Lieferkette, und Governance, d. h. der Unternehmensführung, zusammen. Sehen Sie diese drei Bereiche als gleichwertig nebeneinander stehend - oder sind nicht etwa die Bereiche Environmental und Social die beiden materiellen Bereiche, die über eine gute Governance in den Unternehmen umzusetzen sind?
G ist das Fundament von E und S. Ohne gute Governance ist E und S nicht zu machen. Insoweit ist das G in dem Kürzel ESG von besonderer Wichtigkeit. Das hat übrigens auch Wirecard nochmals vor Augen geführt. Dort ist viel schiefgelaufen, aber eine wesentliche Ursache für diesen Skandal war die Corporate Governance. Wirecard betraf zwar die Finanzberichterstattung, aber ähnliche Probleme können sich natürlich auch in der zweiten Säule der Unternehmensberichterstattung stellen, eben bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung.
Stellen wir dann doch einmal den Klimaschutz dem Schutz der Arbeitnehmer gegenüber. Sehen Sie Schwierigkeiten, diese beiden Ziele gleichwertig in Einklang zu bringen?
Damit sprechen Sie ein sehr schwieriges Problem an. Die EU verfolgt derzeit einen Regulierungsansatz, den man mit „Everything Everywhere All at Once!“ umschreiben kann. E, S und G, alles soll gleichzeitig und gleichwertig und umfassend reguliert werden. Dabei bestehen zwischen diesen Teilaspekten durchaus große Spannungsverhältnisse. Nehmen wir Tesla als Beispiel: Unter E-Aspekten gilt der Hersteller von Elektroautos als gut, „grüne“ Autos. Schon daran, ob diese Einordnung wirklich richtig ist, habe ich meine Zweifel. Aber jedenfalls unter S- und G-Aspekten ist Tesla dagegen ganz und gar kein Vorzeigekandidat. Was ist also nun das ESG-Rating von Tesla? Wie soll der „Buchstabensalat“, wie es der Economist vor einiger Zeit betitelt hat, zu einer einzigen sinnvollen Kennzahl verdichtet werden?
Vielleicht wäre es eher empfehlenswert, sich vordringlich auf E zu konzentrieren, und hier vielleicht sogar auf E im Sinne von Emissions, also CO2-Emissionen. Die Klimaveränderung ist ein, wenn nicht das vordringliche Problem.
Auf Unternehmensebene wird die Thematik der Nachhaltigkeit insbesondere durch die Nachhaltigkeitsberichterstattung getrieben, die von Unternehmen, insbesondere abhängig von ihrer Größe, sukzessive zu erfüllen ist. Ggf. müssen aber auch schon kleinere Unternehmen ihren Geschäftspartnern Rechenschaft ablegen, um einen Kredit oder Lieferauftrag zu erhalten. Für einen Laien erscheinen die zu erfüllenden Vorgaben äußerst komplex und wenig durchsichtig. Wäre es nicht sinnvoller, die Unternehmen könnten sich auf die eigentlichen ESG-Themen konzentrieren, als diesen aufwändigen Berichtspflichten nachkommen zu müssen?
Berichtspflichten sollen private Akteure aktivieren und zu Verhaltensänderungen anstoßen. Regulierungstheoretisch nennt man das „nudging approach“. Dieses regulatorische „Anstupsen“ von privaten Unternehmen tritt als zweites Instrument neben direkte Verbote (etwas von besonders schädlichen Emissionen) und neben Ansätze zu einer CO2-Bepreisung oder Besteuerung. Was die besseren Regulierungsinstrumente sind und ob die Berichtspflichten allenfalls „second best“ wirken, ist umstritten. Aber nach meiner Beobachtung lässt sich jedenfalls nicht leugnen, dass der nudging approach tatsächlich wirkt. Die CSR-Berichterstattung ist ja nicht völlig neu. Große kapitalmarktorientierte Unternehmen müssen schon seit Jahren über CSR-Belange berichten, und das hat, wie ich aus vielen Diskussionen im Arbeitskreis Externe Unternehmensberichterstattung (AKEU) der Schmalenbach Gesellschaft für Betriebswirtschaftslehre weiß, vor Ort viel angestoßen und bewirkt. Das wird nun mit der CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) weiter ausgedehnt.
Richtig ist allerdings, dass die von der EU geforderte Berichterstattung enorm aufwändig ist. Die zu erfüllenden Vorgaben sind nicht nur für einen Laien komplex und wenig durchsichtig. Selbst große Unternehmen stöhnen, und zwar zu Recht. Die neuen Regeln verlangen Berichte über hunderte neue Datenpunkte, es sind neue Prozesse und Berichtslinien aufzubauen usw. Daneben treten Pflichten nach der Lieferkettenregulierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Das betrifft mittelbar auch kleine und mittelgroße Unternehmen, denn die eigentlich allein unmittelbar betroffenen Großunternehmen geben ihre Pflichten nach unten in der Kette weiter. Nehmen Sie den Brüsseler Perfektionismus hinzu, und fertig ist eine sehr schwer verdauliche Regulierungssuppe.
Da der Rest der Welt das so nicht mitmacht, entstehen außerdem gefährliche Wettbewerbsnachteile zu Lasten der europäischen Wirtschaft. Regulierungsdichte ist neben anderen Faktoren ein Wettbewerbs- und Standortkriterium. Derzeit werden neue Investitionen oft nicht mehr in der EU, sondern in anderen Wirtschaftsräumen getätigt. Einzelne Industrien denken sogar über Verlagerungen bestehender Strukturen nach. Das ist wohl vor allem eine Reaktion auf Energieaspekte; die Sicherheit und Verlässlichkeit der Energieversorgung sowie die Energiepreise sind für energieintensive Industrien wie Chemie und Metallerzeugung besonders wichtig. Aber auch die als überbordend empfundene Regulierungsdichte ist dabei ein Thema, außerdem Steuerquoten und anderes mehr.
Der Wirtschaftsraum EU steht vor sehr schwierigen Jahren. Das ist in den Köpfen der politisch Verantwortlichen in Berlin und Brüssel noch nicht ausreichend angekommen. Wirtschaft ist zwar sicher nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts. Eine Reduzierung von Bürokratie und Regulierungsdichte wird in Sonntagsreden zwar gern versprochen, tatsächlich geschieht in Brüssel und Berlin derzeit aber das Gegenteil. Hier wäre weniger mehr!
Juristische Personen des öffentlichen Rechts, also auch Hochschulen, müssen gegebenenfalls die Nachhaltigkeitsanforderungen ebenfalls erfüllen. Wie nähert sich die Universität zu Köln rein praktisch dieser Herausforderung?
Das ist ein herausforderndes Thema. Ob und inwieweit öffentliche Einrichtungen den neuen Richtlinien und Gesetzen wirklich unmittelbar unterliegen, ist juristisch umstritten und nicht ganz klar. Wir organisieren dazu im INUR derzeit einen Gesprächskreis. Jenseits der „harten“ Rechtspflichten stellt sich aber natürlich auch für öffentliche Einrichtungen die Frage: Wie können wir nachhaltiger werden? An der Universität zu Köln wird darüber im Rektorat und im Nachhaltigkeitsrat intensiv diskutiert.
Nachhaltigkeit muss Chefsache sein - aber wie ist Ihre Wahrnehmung. Betreiben die Unternehmen das Thema mit der erforderlichen Ernsthaftigkeit oder wird es manchmal auch zu Marketingzwecken missbraucht?
Nach meinem Eindruck ist die Wichtigkeit des Themas bei vielen Unternehmen sehr angekommen. ESG-Expertise wird auf allen Ebenen auf- und ausgebaut. In den Organigrammen sieht man das. Dort nehmen die ESG-Positionen deutlich zu. Natürlich wird es immer auch Missbräuche und Greenwashing geben. Das ist eine ernste Herausforderung. Aber die Rechtsordnung hat dafür Instrumente.
Inwiefern sehen Sie aufgrund der derzeitigen Anforderungen, die an die Unternehmen gestellt werden, die Gefahr eines Greenwashings und wie könnte ein solches angemessen verhindert werden?
Die Gefahr eines Greenwashings besteht. Das ist ein Thema für die Unternehmensfinanzierung und Finanzindustrie, wenn Produkte als „grün“ beworben werden, die es vielleicht nicht in dem versprochenen Maß sind. Aber das betrifft auch die Produktwerbung und damit das Kauf- und Wettbewerbsrecht und die Unternehmensberichterstattung.
Greenwashing ist im Grunde kein neues Thema, sondern ein Ausschnitt aus der allgemeinen Problematik der Sanktionierung von Rechtsverstößen. Wo neue Vorschriften gesetzt werden, werden diese bisweilen auch verletzt, mitunter sogar bewusst und mit dem Ziel der Irreführung.
Dafür hat die Rechtsordnung aber taugliche Instrumente entwickelt, und diese werden sicher für diesen speziellen Bereich auch weiter ausdifferenziert und verfeinert werden. Drei Beispiele: Wenn ein als grün deklariertes Finanzprodukt tatsächlich nicht grün ist, gibt es kapitalmarktrechtliche Sanktionen, die bis hin zur Rückabwicklung des Kaufs des Finanzinstruments reichen können. Wenn Konsumentenprodukte mit grünen Merkmalen beworben werden, die irreführend sind, kann das kauf- und wettbewerbsrechtliche Konsequenzen haben. Wenn die Unternehmensberichterstattung irreführend grün gefärbt ist, ist das ein Thema für den Abschlussprüfer und die Bilanzkontrolle durch die BaFin, ggf. auch ein Ansatz für Schadensersatzpflichten. Usw.
Die Frage, wann genau ein als grün deklariertes Instrument tatsächlich nicht grün ist, ist allerdings nicht immer klar. Nehmen Sie einen synthetischen ETF auf einen „Grünen Index“. Bei synthetischen ETF investiert der Fonds nicht direkt in die Titel, die im Index enthalten sind. Vielmehr erfolgt die Indexnachbildung mittels eines Tauschgeschäfts – dem Total Return Swap. Dabei wird ein Korb von Wertpapieren als Sicherheit hinterlegt. Ist der ETF noch grün, wenn in dem Korp der Sicherheiten „braune“ Aktien enthalten sind? Darüber kann man streiten, ebenso über die Frage, was überhaupt „grüne“ vs. „braune“ Aktien sind; tatsächlich besteht die Welt ja vielleicht eher aus Kakifarben als aus klaren Grün-Braun-Tönen. Das Beispiel zeigt, dass schon der Tatbestand des Greenwashings nicht immer eindeutig ist. Aber auch das werden die Gerichte bewältigen und mit der Zeit konkretisieren, ebenso wie sie z. B. die Pflichten im Bereich der privaten Produkthaftung mit Augenmaß konkretisiert haben.
Sehr geehrter Herr Professor Hennrichs - wir danken Ihnen vielmals für das Gespräch!