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Notwendigkeit zur Reform des Fallpauschalen-Systems?

Mit der Einführung des deut­schen DRG-Sys­tems für Kran­kenhäuser im Jahr 2003 wurde die Kran­ken­haus­fi­nan­zie­rung um­fas­send neu aus­ge­rich­tet. Es war die Rede von der „größten Struk­tur­re­form im Ge­sund­heits­we­sen seit knapp 30 Jah­ren“ (BMG 2002) mit dem we­sent­li­chen Ziel der Eta­blie­rung ei­nes leis­tungs­ori­en­tier­ten Ent­gelt­sys­tems, das die Wirt­schaft­lich­keit, Trans­pa­renz und Qua­lität im Kran­ken­haus­be­reich fördert.

In den letz­ten Jah­ren ist das DRG-Sys­tem je­doch ver­mehrt in die Kri­tik ge­ra­ten. Im Fo­kus steht eine seit Einführung des DRG-Sys­tems zu­neh­mend wahr­ge­nom­mene „Öko­no­mi­sie­rung“ der Me­di­zin, die An­reize für ein fehl­in­di­zier­tes, wirt­schaft­li­ches Ver­hal­ten fördert so­wie An­reize zur Kos­ten­sen­kung, zur Men­gen­aus­wei­tung lu­kra­ti­ver Leis­tun­gen und zum Ab­bau von Pfle­ge­per­so­nal schafft.

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Um im Rah­men der Einführung des DRG-Sys­tems wirt­schaft­lich pro­fi­ta­bel zu sein, ha­ben Kran­kenhäuser in ers­ter Li­nie die Re­du­zie­rung ih­rer Kos­ten - ins­be­son­dere Per­so­nal­kos­ten - und da­mit einen Stel­len­ab­bau for­ciert. Dies hat nicht nur gra­vie­rende Aus­wir­kun­gen auf die Qua­lität der Pa­ti­en­ten­ver­sor­gung, son­dern geht fer­ner mit ei­ner Ver­schlech­te­rung der Ar­beits­be­din­gun­gen für die Kran­ken­haus­be­schäftig­ten ein­her. Da­von sind primär die Be­schäftig­ten der Ser­vice­be­rei­che und im Pfle­ge­dienst be­trof­fen.

Ne­ben der Re­du­zie­rung der Zahl der Be­schäftig­ten in den Ser­vice­be­rei­chen se­hen sich Mit­ar­bei­ter im haus­wirt­schaft­li­chen und tech­ni­schen Be­reich so­wie in Wirt­schafts- und Ver­sor­gungs­diens­ten mit Ein­kom­mens­einbußen kon­fron­tiert. Dies ist in ers­ter Li­nie dem Out­sour­cing sog. Se­kundär- und Tertiärdienst­leis­tungs­be­rei­che ge­schul­det, in Ver­bin­dung mit einem für Be­schäftigte ge­rin­ge­ren durch­schnitt­li­chen Lohn­ni­veau. Dies trägt hierüber zu ei­ner Verstärkung be­reits be­ste­hen­der so­zia­ler Un­gleich­heit bei.

Im Be­reich des Pfle­ge­diens­tes stellt - nach wie vor - der zu­neh­mende Fachkräfte­man­gel die größte Her­aus­for­de­rung dar. Um der chro­ni­schen Un­ter­be­set­zung und Ar­beitsüber­las­tung der Mit­ar­bei­ter in der Pflege ent­ge­gen­zu­wir­ken, er­folgte im Jahr 2020 die Aus­glie­de­rung der Pfle­ge­per­so­nal­kos­ten aus den Fall­pau­scha­len. Hier­bei wurde mit dem Pfle­ge­per­so­nal-Stärkungs­ge­setz (PpSG) be­schlos­sen, die Pfle­ge­per­so­nal­kos­ten für die un­mit­tel­bare Pa­ti­en­ten­ver­sor­gung auf bet­tenführen­den Sta­tio­nen künf­tig un­abhängig von den Fall­pau­scha­len zu vergüten. Das von den Ver­trags­par­teien zu ver­ein­ba­rende Pfle­ge­bud­get zur Fi­nan­zie­rung der Pfle­ge­per­so­nal­kos­ten berück­sich­tigt die kran­ken­haus­in­di­vi­du­el­len Pfle­ge­per­so­nal­kos­ten und wird auf der Grund­lage der ge­plan­ten und nach­ge­wie­se­nen Pfle­ge­per­so­nal­aus­stat­tung und der kran­ken­haus­in­di­vi­du­el­len Kos­ten er­mit­telt.

Die Aus­glie­de­rung der Pfle­ge­per­so­nal­kos­ten aus den Fall­pau­scha­len be­hebt je­doch nicht das grundsätz­li­che Pro­blem bzw. die sys­tem­im­ma­nen­ten Fehl­an­reize des Fall­pau­scha­len-Sys­tems, die gemäß dem Ge­sund­heits­sys­tem­for­scher Prof. Dr. Si­mon in den Um­ver­tei­lungs­me­cha­nis­men des sog. ge­de­ckel­ten Vergütungs­sys­tems begründet lie­gen.

Das DRG-Sys­tem gilt als ge­de­ckel­tes Vergütungs­sys­tem, da eine Kon­stan­thal­tung des Case-Mix-Ge­samt­vo­lu­mens und da­mit des Ge­samt-Erlösvo­lu­mens im Vor­der­grund steht. Nicht ver­ein­barte Men­gen­aus­wei­tun­gen wer­den fi­nan­zi­ell sank­tio­niert und so­mit un­ter­bun­den („Mehr­erlösaus­gleich“). Die­ses Re­gu­lie­rungs­sys­tem dient der Kon­trolle und Be­gren­zung der Ge­samt­aus­ga­ben und gewähr­leis­tet hierüber eine Bei­trags­satz­sta­bi­lität in der GKV.

Bei ei­ner Kon­stan­thal­tung des Ge­samt­vo­lu­mens der Be­wer­tungs­re­la­tio­nen führen alle Verände­run­gen un­ter­halb des Ge­samt­vo­lu­mens zu Um­ver­tei­lungs­pro­zes­sen. Die An­he­bung der Be­wer­tungs­re­la­tion ei­ner DRG ist bei einem kon­stant zu hal­ten­den Ge­samt­vo­lu­men nur möglich, wenn alle an­de­ren DRG ab­ge­senkt wer­den. Um­ge­kehrt führt die Ab­sen­kung ei­ner DRG au­to­ma­ti­sch zu ei­ner An­he­bung al­ler an­de­ren DRG. Ana­log hierzu verhält es sich für ein­zelne Kos­ten­be­stand­teile der DRG. Diese Um­ver­tei­lungs­pro­zesse ver­ant­wor­ten einen er­heb­li­chen An­teil von Erlösde­fi­zi­ten in Kran­kenhäusern, da sich in Abhängig­keit des Leis­tungs­spek­trums und der Neu­be­wer­tung der DRG im Zuge der Über­ar­bei­tung des Fall­pau­scha­len­ka­ta­logs Ver­schie­bung er­ge­ben können („Ka­ta­lo­gef­fekt“).

Von zen­tra­ler Be­deu­tung für die Um­ver­tei­lungs­wir­kun­gen des Fall­pau­scha­len-Sys­tems ist darüber hin­aus die Kal­ku­la­tion der Fall­pau­scha­len auf Grund­lage durch­schnitt­li­cher Ist-Kos­ten der InEK-Kal­ku­la­ti­ons­kran­kenhäuser. Hier­bei spie­len ins­be­son­dere zwei Kri­tik­punkte eine ent­schei­dende Rolle: Ers­tens gilt es auf eine feh­lende repräsen­ta­tive Stich­pro­bengröße von nur 250 bis 300 Kran­kenhäuser zu ver­wei­sen, wo­durch dem Um­stand ei­ner sys­te­ma­ti­schen Ver­zer­rung der tatsäch­li­chen Kos­ten­verhält­nisse Rech­nung zu tra­gen ist. Zwei­tens be­straft das DRG-Sys­tem bei ei­ner Ori­en­tie­rung an den Ist-Kos­ten, qua­li­ta­tiv hoch­wer­tige Ver­sor­gung mit Ver­lust­ri­si­ken und be­lohnt mit­un­ter un­zu­rei­chende Struk­tur-, Pro­zess- und Er­geb­nis­qua­lität mit Über­schüssen, die dem je­wei­li­gen Kran­ken­haus dau­er­haft als Ge­winn ver­blei­ben. Kran­kenhäuser, de­ren in­di­vi­du­elle Fall­kos­ten dem­ent­spre­chend ober­halb des Durch­schnitts lie­gen, wer­den zu „Ver­lie­rern“ und Kran­kenhäuser, de­ren Fall­kos­ten un­ter je­nen des Durch­schnitts lie­gen, wer­den zu „Ge­win­nern“. Die Rea­li­sie­rung von Ge­win­nen bzw. von Ver­lus­ten ist dem­ent­spre­chend eng mit der Kal­ku­la­tion der Fall­pau­scha­len auf Grund­lage durch­schnitt­li­cher Ist-Kos­ten ver­bun­den. Ins­be­son­dere am Bei­spiel der Per­so­nal­kos­ten lässt sich die­ser Ef­fekt ver­deut­li­chen: Da ein Großteil der Kran­ken­haus­kos­ten auf die Per­so­nal­kos­ten entfällt (ca. 60 %), spielt die Per­so­nal­be­set­zung eine ent­schei­dende Rolle hin­sicht­lich der Über- oder Un­ter­schrei­tung der Ist-Durch­schnitts­kos­ten. In Abhängig­keit der An­zahl und der Qua­li­fi­ka­tion der Be­schäftig­ten be­straft das DRG-Sys­tem auf diese Weise eine über­durch­schnitt­lich gute Per­so­nal­be­set­zung mit Ver­lus­ten und be­lohnt eine Un­ter­be­set­zung mit Ge­win­nen.

Aus den zu­vor erläuter­ten As­pek­ten lässt sich zu­sam­men­fas­send fest­hal­ten, dass eine Fortführung des DRG-Sys­tems auf­grund der Dys­funk­tio­na­lität der Fall­pau­scha­len durch Fehl­an­reize der Kos­ten­sen­kungs­lo­gik ohne eine sys­te­ma­ti­sche Berück­sich­ti­gung der Be­hand­lungs­qua­lität so­wie in­trans­pa­ren­ter, ra­tio­nal nicht begründe­ter Um­ver­tei­lungs­ef­fekte nicht ver­tret­bar ist. Fer­ner las­sen sich die viel­fach dis­ku­tier­ten un­zu­rei­chen­den In­ves­ti­ti­ons­mit­tel der Länder, der zu­neh­mende Fachkräfte­man­gel so­wie die feh­lende Vor­hal­tung ei­ner be­darfs­ge­rech­ten Ver­sor­gungs­struk­tur als In­ef­fi­zi­en­zen des DRG-Sys­tems anführen.

Aus die­sen Gründen wird seit Mitte 2019 sei­tens der Po­li­tik und In­ter­es­sens­ver­tre­tern des Ge­sund­heits­we­sens über Möglich­kei­ten ei­ner grund­le­gen­den Re­form des DRG-Sys­tems dis­ku­tiert. Ziel muss die Schaf­fung ei­nes trans­pa­ren­ten, hin­rei­chend fle­xi­blen Vergütungs­sys­tem sein, das be­ste­hende Fehl­an­reize ab­baut und neue An­reize schafft, die ins­be­son­dere das Per­so­nal ent­las­ten. Je­doch stellt sich die Frage nach mögli­chen al­ter­na­ti­ven Fi­nan­zie­rungsmöglich­kei­ten. Der bis­he­rige Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn (CDU) sieht kein schnel­les Ende der DRG-Fi­nan­zie­rung der Kran­kenhäuser: „Eine Vor­aus­set­zung für ein an­de­res Fi­nan­zie­rungs­sys­tem, bei dem nicht das Geld der Leis­tung folgt, ist eine be­darfs­ge­rechte Struk­tur. Die ha­ben wir nicht.“ So­mit bleibt die Schaf­fung ent­spre­chen­der be­darfs­ge­rech­ter Struk­tu­ren und die Um­set­zung der Re­form der Kran­ken­haus­fi­nan­zie­rung eine zen­trale Her­aus­for­de­rung für die kom­mende Le­gis­la­tur­pe­riode.

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