Im deutschen und europäischen Kartellrecht fallen auch „vertikale“ Wettbewerbsbeschränkungen, die auf einer Vereinbarung zwischen Lieferanten und Abnehmern beruhen, unter das Kartellverbot des Art. 101 AEUV bzw. § 1 GWB. Über die Vertikal-GVO sind jedoch bestimmte Arten von vertikalen Vereinbarungen von dem Kartellverbot ausgenommen und damit zulässig, da sie grundsätzlich als nicht schädlich bzw. zum Teil sogar als wettbewerbsfördernd angesehen werden. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine solche Freistellung vorliegen, obliegt den beteiligten Unternehmen. Eine fehlende Freistellung kann zur Nichtigkeit der Vereinbarung führen und Bußgelder nach sich ziehen. Wir geben einen Überblick über die wesentlichen Änderungen der neuen Vertikal-GVO.
E-Commerce und Online-Plattformen
Im Bereich des E-Commerce sieht die reformierte Vertikal-GVO zahlreiche Neuregelungen vor. Diese normieren weitgehend die bereits durch Rechtsprechung und Behördenpraxis der letzten Jahre ausgeformten Leitplanken.
Im Zentrum steht die Regelung, dass die Verhinderung des Abnehmers zur wirksamen Nutzung des Internets als Verkaufskanal eine unzulässige Kernbeschränkung darstellt. Dem Abnehmer darf z. B. nicht untersagt werden, einen eigenen Online-Shop zu betreiben. Nach den Leitlinien darf ihm auch nicht generell die Nutzung von Suchmaschinen und Preisvergleichsdiensten verboten werden. Möglich kann dagegen eine Beschränkung des Abnehmers bei der Nutzung von Online-Marktplätzen sein.
Neuerungen ergeben sich für sog. „Doppelpreissysteme“, bei deren Gestaltung nach den neuen Vertikal-Leitlinien mehr Spielraum besteht. Bei Doppelpreissystemen bezahlt der Abnehmer für online verkaufte Waren einen anderen Einkaufspreis als für offline verkaufte Waren. Hier sind nach der geänderten Rechtslage ggf. interessante neue Konditionengestaltungen möglich.
Erstmals wird durch Vertikal-GVO und Leitlinien auch das Geschäftsmodell von Online-Plattformen spezifisch adressiert. Eine bedeutende Änderung ergibt sich insoweit für die nach alter Rechtslage vielfach gewählten Handelsvertreter-Konstruktionen. Die Leitlinien stellen klar, dass in der Online-Plattformwirtschaft tätige Unternehmen in der Regel nicht als kartellrechtliche Handelsvertreter anzusehen sind. Dezidierte Regelungen sehen die Vertikal-Leitlinien zudem für Anbieter von „Online-Vermittlungsdiensten“, wie z. B. Online-Marktplätzen, Preisvergleichsplattformen und App-Stores vor.
Hinweis: Aufgrund der vielfältigen neuen Regelungen dürfte eine Überprüfung bestehender Vereinbarungen mit Plattformen bzw. eine Prüfung bestehender Plattformmodelle vor dem 31.05. 2023 sinnvoll sein.
Exklusivvertrieb, Selektivvertrieb, Abgrenzung verschiedener Vertriebssysteme
Eine bedeutende Änderung sieht die neue Vertikal-GVO in Bezug auf Alleinvertriebssysteme vor. Hier besteht nun die Möglichkeit, ein Vertriebsgebiet oder eine Kundengruppe nicht mehr nur einem, sondern bis zu fünf Händlern exklusiv zuzuweisen. Zudem hat der Anbieter mehr Spielraum, parallel betriebene Allein- und Selektivvertriebsgebiete besser gegen Verkäufe aus dem jeweils anderen Gebiet sowie aus freien Gebieten zu schützen.
Hinweis: Vor diesem Hintergrund kann eine Überprüfung bestehender Vertriebssysteme auf zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten Sinn machen.
Dualer Vertrieb
Eine wesentliche Klarstellung sieht die neue Vertikal-GVO zudem in Bezug auf den Informationsaustausch beim „dualen“ Vertrieb vor. Von dualem oder „zweigleisigem“ Vertrieb spricht man, wenn ein Anbieter parallel zu seinen Vertriebspartnern auch selbst auf der nachgelagerten Markstufe vertreibt, z. B. ein Hersteller, der neben seinem Vertriebspartnernetz einen eigenen B2C-Online-Shop unterhält. In diesen Fällen sind Anbieter und Abnehmer Wettbewerber auf dem nachgelagerten Markt.
Die neue Vertikal-GVO stellt nun klar, dass ein Austausch wettbewerblich sensibler Informationen zwischen Anbieter und Abnehmer in diesen Konstellationen nur freigestellt ist, soweit dieser die direkte Umsetzung der Vertriebsvereinbarung betrifft und zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich ist.
Hinweis: Anpassungsbedarf kann daher bei Vertriebsklauseln bestehen, die die Weitergabe bzw. den Austausch von bestimmten strategischen Geschäftsinformationen im dualen Vertrieb betreffen.
Lockerung bei Wettbewerbsverboten
Auch bei Wettbewerbsverboten bzw. Exklusivbindungen des Abnehmers sieht die neue Vertikal-GVO eine höchst praxisrelevante Änderung vor. Im Gegensatz zur alten Rechtslage sind nunmehr sog. „evergreen clauses“ unter bestimmten Voraussetzungen freigestellt, wonach sich ein auf maximal fünf Jahre befristetes Wettbewerbsverbot mit seinem Ablauf automatisch verlängert.
Klarstellungen beim Handelsvertretervertrieb
Schließlich sehen die neuen Vertikal-Leitlinien wichtige Klarstellungen in Bezug auf das kartellrechtliche Handelsvertreterprivileg vor. Sog. „echte“ kartellrechtliche Handelsvertreterkonstellationen ermöglichen es dem Anbieter, gegenüber dem Handelsvertreter weitergehende Vorgaben hinsichtlich des Weiterverkaufs der Vertragswaren zu machen als gegenüber klassischen Händlern.
Die neuen Leitlinien enthalten insoweit Klarstellungen und Neuerungen, u. a. was die Frage des Eigentumserwerbs des Handelsvertreters, Details bezüglich der relevanten Risiken und parallele Tätigkeiten des Handelsvertreters für mehrere Geschäftsherren (sog. „Handelsvertreter mit Doppelprägung“) betrifft. Wie bereits ausgeführt, stellen die Leitlinien zudem klar, dass Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die in der Online-Plattformwirtschaft tätig sind, in der Regel nicht die Voraussetzung für das Handelsvertreterprivileg erfüllen.
Hinweis: Es kann daher sinnvoll sein, bestehende Handelsvertreterkonstellationen anhand der Neuregelungen auf Anpassungsbedarf und zusätzliche Regelungsmöglichkeiten zu überprüfen.
Kernbeschränkungen weitgehend unverändert
In Bezug auf die nach der Vertikal-GVO nicht vom Kartellverbot freigestellten Kernbeschränkungen haben sich keine wesentlichen Änderungen ergeben. Grundsätzlich unzulässig ist nach wie vor die Beschränkung des Abnehmers, seine Verkaufspreise selbst festzusetzen. Gebiets- und Kundengruppenbeschränkungen sind weiterhin nur in eng definierte Ausnahmen möglich.
Hinweis: Hier ist daher weiterhin Vorsicht geboten: Verstöße gegen Kernbeschränkungen werden regelmäßig von den Kartellbehörden aufgegriffen und mit empfindlichen Bußgeldern belegt, unabhängig von der Größe der Unternehmen oder der Branche.
Autoren: Dr. Christoph Stock, Nadine Bläser LL.M., Eduard Engelmann