Hintergrund:
Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sieht eine Reihe von gemeinsamen Grundsätzen vor, die die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet einhalten müssen, so dass die einzelnen nationalen Systeme niemanden, der von seinem Recht auf Freizügigkeit und seinem Aufenthaltsrecht in der Union Gebrauch macht, benachteiligen. Einer dieser allgemeinen Grundsätze ist der Gleichbehandlungsgrundsatz. Im Rahmen der sozialen Sicherheit kommt dieser Grundsatz durch das Verbot einer Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zum Ausdruck.
Bei der EU-Kommission gingen zahlreiche Beschwerden von nicht britischen EU-Bürgern ein, die sich im Vereinigten Königreich aufhalten. Diese Bürger beschwerten sich darüber, dass sich die zuständigen britischen Behörden weigerten, ihnen bestimmte soziale Leistungen zu gewähren, weil sie kein Aufenthaltsrecht in diesem Land besäßen. Nach Auffassung der Kommission entsprechen die britischen Rechtsvorschriften nicht den Bestimmungen der Verordnung; sie erhob daher gegen das Vereinigte Königreich eine Vertragsverletzungsklage.
Die Kommission wies darauf hin, dass die britischen Rechtsvorschriften bei einem Antrag auf bestimmte soziale Leistungen - dazu gehören, wie im vorliegenden Fall in Rede stehend, das Kindergeld und die Steuergutschrift für Kinder - eine Prüfung vorschreiben, ob sich der jeweilige Antragsteller rechtmäßig im Vereinigten Königreich aufhält. Die Kommission hält diese Bedingung für diskriminierend und für mit dem Geist der genannten Verordnung unvereinbar, die lediglich auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Antragstellers abstelle. Das Vereinigte Königreich beruft sich demgegenüber auf das EuGH-Urteil vom 19.9.2013, C-140/12 (Brey), wonach der Aufnahmemitgliedstaat die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger von dem Erfordernis abhängig machen könne, dass diese die im Wesentlichen in einer Richtlinie der Union festgelegten Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllten.
Das Vereinigte Königreich räumt zwar ein, dass seine eigenen Staatsangehörigen leichter die Voraussetzungen für die Gewährung der im vorliegenden Fall in Rede stehenden Sozialleistungen erfüllen könnten (weil sie grundsätzlich zum Aufenthalt berechtigt seien), doch stelle das Erfordernis eines Aufenthaltsrechts jedenfalls eine verhältnismäßige Maßnahme dar, um sicherzustellen, dass die Leistungen nur an Personen gezahlt würden, die im Vereinigten Königreich ausreichend integriert seien.
Der EuGH wies die Klage der Kommission ab.
Die Gründe:
Die in Rede stehenden Leistungen sind solche der sozialen Sicherheit und fallen demnach in den Geltungsbereich der Verordnung. Allerdings dringt das Hauptargument der Kommission, wonach die britischen Rechtsvorschriften eine zusätzliche Voraussetzung zu der in der Verordnung vorgesehenen Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthalts aufstellten, nicht durch.
Das Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne der Verordnung ist keine notwendige Voraussetzung für den Anspruch auf die Leistungen ist, sondern eine "Kollisionsnorm", die die gleichzeitige Anwendung verschiedener nationaler Rechte vermeiden und verhindern soll, dass Personen, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben, der Schutz vorenthalten wird. Die Verordnung schafft kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt unterschiedliche nationale Systeme bestehen.
Sie legt somit nicht die inhaltlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anspruchs auf die Leistungen fest, denn es ist grundsätzlich Sache der Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaats, diese Voraussetzungen festzulegen. In diesem Rahmen spricht nichts dagegen, dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die nicht erwerbstätig sind, von dem Erfordernis abhängig gemacht wird, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen.
Auch das von der Kommission hilfsweise vorgetragenen Argument, dass die Prüfung des Aufenthaltsrechts eine Diskriminierung darstelle, greift nicht. Die Voraussetzung des Rechts auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich bewirkt vielmehr eine Ungleichbehandlung, weil die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats sie leichter erfüllen können als die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten. Allerdings kann diese Ungleichbehandlung durch ein legitimes Ziel wie etwa die Notwendigkeit, die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats zu schützen, gerechtfertigt werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Die nationalen Behörden prüfen insoweit die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Einklang mit den in der Richtlinie über die Freizügigkeit vorgesehenen Voraussetzungen. Diese Prüfung erfolgt nicht systematisch bei jedem Antrag, sondern nur im Zweifelsfall. Folglich geht die Voraussetzung nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um das vom Vereinigten Königreich verfolgte legitime Ziel, nämlich den notwendigen Schutz seiner Finanzen, zu erreichen.
Linkhinweis:
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