Die Automobilindustrie steht vor erheblichen Umbrüchen und Herausforderungen. Die ins Stocken geratene Transformation in Richtung Elektromobilität, die verschärfte Wettbewerbssituation auf dem Weltautomobilmarkt sowie die Verschlechterung der Rahmenbedingungen am Standort Deutschland haben die Branche in einen Krisenmodus versetzt. Die „Automobil-Studie 2024“ von RSM Ebner Stolz bietet eine umfassende Analyse der aktuellen Lage und der Zukunftsperspektiven.
Elektromobilität: Trend gebrochen
Bereits in unserer Studie im Jahr 2022 („Zeitenwende“) haben wir darauf hingewiesen, dass der Technologiewandel hin zum Elektroauto „nicht kunden- sondern politikgetrieben“ ist und die Gefahr besteht, dass sich die Erwartungen im Hinblick auf das Wachstum dieses Marktsegments aufgrund mangelnder Kundenakzeptanz nicht erfüllen könnten. Dieses Szenario ist jetzt eingetreten: In Deutschland und Europa ist der steile Anstieg der Verkaufszahlen für Elektroautos gebrochen.
In den USA führt das Elektroauto weiterhin eine Randexistenz. Lediglich China bleibt in der Spur: Das Elektroauto kann dort weiter zulegen, wobei es spannend sein wird, zu sehen, wie sich der Absatz entwickelt, wenn im Jahr 2025 die finanzielle Förderung von Elektrofahrzeugen zurückgefahren wird.
Technologische Potenziale heben
Die Studie kritisiert den politischen Druck und die unrealistischen Zeitziele, die zu suboptimalen Lösungen in der Rohstoff- und Produktionskette geführt haben. Mit einer langfristig angelegten Transformation könnten die Unternehmen ihre industriellen Strukturen und ihre Supply-Chain effizienter anpassen und für viele der noch offenen Fragen optimale Lösungen finden. Dazu gehört z. B. eine zukunftsweisende Batterietechnologie (Stichwort: Feststoffbatterien) und neue Formen der Ladetechnik (Stichwort: Induktives Laden).
Zukunftsprojektion: Der Antriebsmix 2030
Die Studie geht davon aus, dass auf dem Weltautomobilmarkt im Jahr 2030 jeweils ein Drittel der verkauften Fahrzeuge Elektroautos, Hybride und Verbrenner sein werden. Auch für Europa ist damit zu rechnen, dass bis 2030 noch rund zwei Drittel der Fahrzeuge einen Verbrennungsmotor haben werden (reine Verbrenner plus Hybride). Das Ziel, in Deutschland bis zum Jahr 2030 15 Mio. Elektroautos auf der Straße zu haben, wird nicht erreicht werden. Klar ist: Auch um diese reduzierten Ziele zu erreichen, braucht der Markt für Elektroautos neue Impulse – technische, finanzielle und psychologische!
Chinesische Hersteller auf Expansionskurs
Der Plan der chinesischen Regierung, die Automobilindustrie rund um die Elektromobilität zu einer tragenden Säule der chinesischen Volkswirtschaft aufzubauen, ist gelungen. Die chinesischen Hersteller haben die westlichen Konkurrenten vor allem im Massengeschäft Schritt für Schritt zurückgedrängt und verfolgen jetzt eine klar erkennbare Internationalisierungsstrategie.
Die Expansion chinesischer Automarken in Europa in den letzten Jahren ist tatsächlich beeindruckend: Seit dem Jahr 2020 ist der Marktanteil chinesischer Hersteller am europäischen Markt für batterieelektrische Fahrzeuge (BEV) von 2,9 % auf 21,7 % gestiegen – bei einem gleichzeitigen überproportionalen Wachstum dieses Marktsegmentes. Insgesamt hat China im Jahr 2023 etwas mehr als 700.000 Fahrzeuge (PKW) in die EU exportiert, wobei sie besonders in jenen Märkten erfolgreich waren, die über keine eigene Autoindustrie und einen hohen Anteil an BEV an den gesamten PKW-Verkäufen verfügten.
Marktdurchdringung, aber keine Marktbeherrschung
Trotz ihrer unbestreitbaren Erfolge auf einigen europäischen Märkten dürfen die Chinesen nicht überschätzt werden. Vor ihnen stehen noch große Herausforderungen, um sich dauerhaft im europäischen Automobilmarkt festsetzen zu können. Dies betrifft vor allem den Auf- und den Ausbau leistungsfähiger Vertriebs- und Servicenetze. Außerdem müssen viele chinesische Marken noch in ihre Bekanntheit und ihr Image investieren. Das gibt den anderen Herstellern die Chance, ihre Wettbewerbsstrategien auf die chinesischen Marken auszurichten.
Die chinesische Herausforderung: Bedrohung und Chance!
Der Angriff der chinesischen Automobilhersteller ist nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance für die etablierten Hersteller. Sie müssen die Herausforderung nutzen, um nicht nur ihre Strategien und Geschäftsmodelle, sondern auch ihre Strukturen und Prozesse zu überprüfen.
Zollschranken werden nicht helfen, denn die Chinesen werden – wie das vor ihnen schon die Japaner und Koreaner gemacht haben – Transplants in Europa aufbauen und damit den Kapazitätsdruck erhöhen.
Ein neues Lean Management ist gefordert!
Durch den Markteintritt der Chinesen wird das Preisgefüge auf dem europäischen Automobilmarkt neu ausbalanciert. Das betrifft Volumen- wie Premiummarken gleichermaßen. Vor allem die deutschen Premiummarken müssen aufpassen, dass sie sich nicht aus dem Markt „hinauspreisen“.
Das Anspruchsniveau der Kunden wird in Zukunft weiter steigen und Premiumpreise müssen durch Technik und Ausstattung der Fahrzeuge in den Augen der Kunden gerechtfertigt sein. Fortschrittliche Technologien und Ausstattungserweiterungen setzen jedoch voraus, dass neue Modelle kostengünstiger entwickelt und produziert werden. Mehr als in den vergangenen Jahren wird die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen nicht allein von Image und Design abhängen, sondern von der Substanz ihrer Produkte und einer angemessenen Preisstellung. Deshalb ist eine Phase des Lean Management angesagt!
Vier zentrale Handlungsfelder
Die Neujustierung der Preispunkte stellt sowohl die OEMs (Original Equipment Manufacturer) wie auch die Zulieferer vor die Aufgabe, die kundenorientierte Wertschöpfung in den Mittelpunkt ihrer Unternehmenspolitik zu stellen. Konkret sieht die Studie die folgenden vier zentralen Handlungsfelder:
- Anpassung des Technologie- und Produktportfolios,
- Kapazitäts- und Standortpolitik,
- Rationalisierung und Automatisierung sowie
- Wiederbelebung der Leistungskultur.
In allen diesen Handlungsfeldern muss es einen leitenden Gedanken geben: Was sind die wirklichen - und das heißt: die aus Kundensicht wertschöpfenden - Prozesse und wie können diese „verschlankt“ werden?
Rationalisierung in den Vordergrund rücken!
Die Produktionskapazitäten in vielen westeuropäischen Ländern sind nicht ausgelastet, Überkapazitäten zeichnen sich ab oder sind bei einigen Herstellern schon Realität, so dass es in den nächsten Jahren zu einer Kapazitätsbereinigung bei den OEMs kommen dürfte. Die mittelständischen Automobilzulieferer müssen sich daher dringend auf ein Szenario des Verdrängungswettbewerbs einstellen.
Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sind auch viele mittelständische Zulieferer in den Sog einer „Inflation“ betrieblicher Sozialleistungen durch Großunternehmen geraten. Das wird nicht durchzuhalten sein: Eine funktionierende Strategie gegen den Fachkräftemangel ist die forcierte Rationalisierung und Automatisierung von personalintensiven Prozessen.
Leistungsbereitschaft nicht blockieren, sondern fördern!
Alle Unternehmen in der Automobilbranche stehen vor der Herausforderung, ihre Personalpolitik, ihre sozialen betrieblichen Regelungen und ihre Bonifizierungssysteme darauf hin zu überprüfen, ob sie die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft ihrer Mitarbeiter schwächen oder fördern. Dieser Prozess muss bereits bei der Personalrekrutierung beginnen und sich über die Personalführung bis hin zur Personalentwicklung erstrecken.
Fazit: Wertschöpfung und Kosten in den Fokus rücken!
In der aktuellen Situation, in der sich die deutsche Automobilindustrie befindet, muss ein verstärkter Nachdruck auf ein konsequentes Kostenmanagement gelegt werden. Dabei geht es vor allem darum, alle nicht direkt wertschöpfenden Tätigkeiten auf den Prüfstand zu stellen. Ein besonderes Augenmerk sollte auf die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz gerichtet werden, durch die verwaltende, planende und disponierende Prozesse optimiert werden können.
Die Unternehmen der Automobilbranche brauchen eine Verschlankung von Strukturen und Prozessen. Nur so werden sie den Krisenmodus verlassen und wieder in einen forcierten Wachstumsmodus schalten können!