Welche Faktoren und richtungsweisenden Meilensteine die Wirtschaftsprüfung geprägt haben und welchen Herausforderungen sich die Wirtschaftsprüferbranche in Zukunft stellen muss, darüber haben wir mit Dr. Wolfgang Russ, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Partner bei Ebner Stolz, gesprochen. Nach 36-jähriger Berufstätigkeit bei Ebner Stolz verabschiedet er sich zum Jahreswechsel in den Ruhestand. Als langjähriges Mitglied im Hauptfachausschuss des Instituts der Wirtschaftsprüfung (IDW) hat sich Herr Dr. Russ maßgeblich in fachliche Themen und Fragen des Berufsstands eingebracht.
Herr Dr. Russ, was waren die größten Herausforderungen, denen sich die Wirtschaftsprüferbranche in den gut 40 Jahren Ihrer Karriere stellen musste?
Kurz gefasst lassen sich die Herausforderungen mit einigen Stichworten umreißen, die heute wie damals aktuell sind und gleichermaßen Finanzmärkte, Mandanten und die WP-Branche betreffen: zunehmende Internationalisierung, anhaltende Digitalisierung, permanenter regulatorischer Aktivismus. Daraus ist eine Professionalisierung aller Bereiche und letztlich eine Entwicklung unserer Branche entstanden, die von dem klassischen freien Beruf weg und in den relevanten Marktsegmenten hin zu national und teilweise weltweit agierenden Prüfungs- und Beratungsunternehmen geführt hat. Daneben waren natürlich die Herausforderungen aus zum Teil epochalen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu bewältigen; ich nenne nur die Wiedervereinigung, die Euro-Einführung, den (Wieder-) Aufstieg Chinas, den Aufstieg und Fall des Neuen Marktes, die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 und nicht zuletzt die Corona-Pandemie. Alle diese Themen hatten (bzw. haben) zum Teil signifikante Auswirkungen auf Rechnungslegung und Prüfung.
Das deutsche Prüfungswesen wurde maßgeblich durch globale Vorgaben beeinflusst. So berücksichtigen die vom DRSC bzw. IDW herausgegebenen Rechnungslegungsstandards auch die IFRS-Standards und die Prüfungsstandards orientieren sich immer stärker an den International Standards on Auditing. Hat das HGB auf lange Sicht ausgedient?
Nein, das sehe ich so nicht. Zweifellos wurde das primär dem Gläubigerschutz dienende HGB schrittweise den IFRS angenähert. Insb. das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz aus dem Jahr 2009 hat hier einen wesentlichen Schritt der Annäherung gebracht. Allerdings werden die in diesem Gesetz eingeräumten Aktivierungswahlrechte nur von einzelnen Unternehmen wahrgenommen. Außerdem sind die IFRS zunehmend komplexer in der Anwendung geworden; ich darf nur an die sehr extensiven Berichtspflichten im Anhang („notes") erinnern. Zugleich hat sich das für mittlere und kleinere Gesellschaften vor Jahren vom IASB entwickelte Konzept „IFRS for SME“ in der Praxis nicht durchsetzen können. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass die Rechnungslegung (auf der Ebene des Einzelabschlusses) in das jeweilige Gesellschafts- und Insolvenzrecht eingebettet ist; hier ist bereits innerhalb der EU eine große Bandbreite zu verzeichnen. Wir beobachten im Übrigen, dass Mandanten, die nicht zur IFRS-Rechnungslegung verpflichtet sind, sondern diese freiwillig anwenden, sich teilweise wieder hiervon verabschieden und dem HGB zuwenden.
2001 wurde die externe Qualitätskontrolle für Wirtschaftsprüfer zur Sicherung der Qualität im Berufsstand eingeführt. Wie wird diese Qualitätskontrolle konkret bei Ebner Stolz umgesetzt und hat diese - in Anbetracht verschiedentlicher Bilanzskandale - ihr Ziel erreicht?
Die interne und externe Qualitätskontrolle bei Ebner Stolz ist ein mehrstufiger Prozess. Die wichtigste interne Qualitätsstufe besteht in der kompetenten Arbeit gut ausgebildeter mandatsverantwortlicher Prüfer und Partner, verbunden mit adäquaten prozessintegrierten Qualitätssicherungsmaßnahmen. Bei bestimmten Mandaten, insb. im Kapitalmarktumfeld, findet zusätzlich eine unabhängige sog. auftragsbegleitende Qualitätssicherung durch einen nicht mit der Prüfung befassten Wirtschaftsprüfer statt. Schließlich unterziehen wir eine Stichprobe von Prüfungsaufträgen jährlich einer internen Nachschau.
Die externe Qualitätskontrollprüfung begann 2002 mit dem sog. Peer Review (alle drei Jahre, später alle sechs Jahre) durch eine andere Wirtschaftsprüfungsgesellschaft; seit 2007 tritt eine spezifische Inspektion der Praxisorganisation und der Prüfungsaufträge von Mandaten im öffentlichen Interesse durch die heutige APAS (Abschlussprüferaufsichtsstelle) hinzu, der wir uns im Hinblick auf die beachtliche Zahl der von uns in diesem Segment betreuten Mandate jährlich unterziehen müssen. Diese (externen) Qualitätsüberprüfungen sind zwar oft lästig und manchmal etwas kleinteilig angelegt, aber sie haben durch den von uns gepflegten konstruktiven Austausch mit den Inspektoren zweifellos dazu beigetragen, unsere Prüfungsqualität auf dem höchsten internationalen Standard zu halten. Wir sind durchaus stolz darauf, dass die APAS bislang keine Feststellungen zu unserer Praxisorganisation getroffen hat.
2016 kam es mit dem Abschlussprüferreformgesetz und dem Abschlussprüferaufsichtsreformgesetz zu weiteren Novellierungen des Berufsrechts. Hierdurch sollten mittelständische Prüfungsgesellschaften gestärkt werden. Wie haben sich diese Reformen konkret bei Ebner Stolz ausgewirkt?
Die ursprünglich durch den EU-Kommissar Michel Barnier verfolgte Zielsetzung der Stärkung des Wettbewerbs und insb. der Verbreiterung der Anbieterstruktur wurde durch die regulatorischen Maßnahmen nicht erreicht; die Zahl der Anbieter in diesem Segment nimmt laufend ab. Insb. die nunmehr verpflichtende externe Rotation wirkt tendenziell konzentrationsfördernd. Ebner Stolz konnte in diesem Umfeld seine Position als Nr. 5 bei der Prüfung kapitalmarktnotierter Unternehmen seit 2016 kontinuierlich ausbauen.
Wie können sich mittelständische Prüfungsgesellschaften im Wettbewerb und der Gemengelage mit den Big Four behaupten und worin sehen Sie den Mehrwert von Ebner Stolz gegenüber den großen Beratungsgesellschaften?
Seit der Gründung von Ebner Stolz im Jahr 1974 haben wir uns als derjenige Prüfer und Berater verstanden, der sich gezielt dem Mittelstand mit seinen spezifischen Bedürfnissen verschrieben hat und stets fokussiert „näher dran“ am Mandanten und seinen Entscheidungsträgern war und ist. Aus jeder Abschlussprüfung wollen wir Erkenntnisse gewinnen, die dem Mandanten in seinem Rechnungswesen, seiner Steuersituation, seiner IT-Aufstellung oder in allgemeinen unternehmerischen Fragen weiterhelfen. Diesen Anspruch unserer Gründer, den ich kürzlich mit etwas anderen Worten in dem Antwortbrief von Dr. Ebner auf mein Bewerbungsschreiben wiederfand, wollen wir heute und in Zukunft weiterhin mit Leben füllen. Gegenüber den großen Häusern sehen wir uns in der konsequenten Ausrichtung auf den Mittelstand im Vorteil; zudem ist unsere Organisation bei weitem weniger zentralistisch angelegt und setzt stattdessen auf den unternehmerisch agierenden, voll mandatsverantwortlichen Partner.
Richten wir den Blick nach vorne. Die Branche hat sich mit zahlreichen Regulatorien, einem steigenden Wettbewerb, anhaltendem Preisdruck und der Digitalisierung zahlreichen Herausforderungen zu stellen. Wie sieht die Zukunft der Wirtschaftsprüfung aus?
Zunächst: die Kernfunktion der Wirtschaftsprüfung war es seit der Einführung der gesetzlichen Abschlussprüfung, den sog. Stakeholdern eines Unternehmens mit Testaten und Prüfungsberichten Sicherheit zu vermitteln. Diese Garantiefunktion gilt es auch in Zukunft zu bewahren und angemessen, d. h. ohne Vergrößerung der sog. Erwartungslücke, weiterzuentwickeln. So wird als Folge des Wirecard-Falls möglicherweise die Prüfung von Management Fraud und die Existenz und Verlässlichkeit von Compliance-Systemen intensiviert werden.
Sicherlich werden datenbasierte („Voll-“) Prüfungsansätze in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Diese werden, die Corona-Situation war insoweit ein beschleunigender Faktor, zunehmend auch offsite und außerhalb der Hauptprüfung stattfinden. Diese Prüfungsansätze haben jedoch u. a. dann ihre Grenze, wenn etwa bei der Einschätzung der Werthaltigkeit eines Firmenwerts oder der Beurteilung einer Prozessrückstellung das Ermessen von Bilanzierendem und Prüfer eine Rolle spielt.
Hinsichtlich der Honorarentwicklung halte ich es aus verschiedenen Gründen nicht für ausgeschlossen, dass wir eine Entwicklung wie im Vereinigten Königreich erleben. Dort ist es seit ca. zwei Jahren im Nachgang zu mehreren Bilanzskandalen und regulatorischen Eingriffen zu einer deutlichen Umkehr der Honorarentwicklung gekommen.
Und wie geht Ebner Stolz mit diesen Herausforderungen um?
Ganz klar, die Digitalisierung verändert unsere Branche massiv. Fortschritte in diesem Bereich sind ein Schlüssel, um zugleich den anderen Herausforderungen gerecht zu werden und den Mandantenmehrwert unserer Tätigkeit im nächsten Jahrzehnt mit neuen Inhalten zu füllen. Wir haben unsere Ressourcen im Bereich Digitalisierung überproportional zu unserer Wachstumsentwicklung ausgebaut. Eine recht ansehnliche Personengruppe kümmert sich inzwischen auf Vollzeitbasis um die digitale Transformation in der Abschlussprüfung. Wichtige aktuelle Themen sind bspw. Data Analytics, Process Mining, Artificial Intelligence, der Aufbau eines sog. Data Warehouses, Kollaborationsplattformen mit Mandanten und anderen Prüfern (z. B. bei der Prüfung von Konzernabschlüssen). Interessanter Weise bestehen bei einigen der genannten Themen Schnittstellen und Synergiepotentiale zu Digitalisierungsaufgaben aus der Steuer-, Rechts- und Unternehmensberatung, die wir in unserem sog. Innovation Board regelmäßig koordinieren.
Verlassen wir nun den fachlichen Teil unseres Gesprächs: Was waren Ihre persönlichen Highlights? Und: würden Sie heute nochmals den Beruf des Wirtschaftsprüfers ergreifen?
Ich nehme den letzten Teil Ihrer Frage zuerst auf: Ja, ohne Wenn und Aber. Ich würde nochmals Wirtschaftsprüfer werden, ich bin schon immer ein Zahlenmensch gewesen und habe erlebt, dass die Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer weit darüber hinausgeht.
Die Erinnerungen sind und bleiben vielfältig, ich möchte sie zweiteilen in die mandatsbezogenen Erfahrungen und diejenigen bei der Entwicklung des eigenen Unternehmens: in der Mandatsarbeit sind einerseits teilweise jahrzehntelange, vertrauensvolle Verbindungen zu einzelnen Mittelständlern aus der laufenden Prüfung und Beratung entstanden; mit diesen Unternehmen hat man gemeinsam viel erlebt und gestaltet. Andererseits waren die großen Projektaufträge wie die Verschmelzungsprüfung Telekom/T-Online, der Squeeze-Out Bayer/Schering, die Sonderprüfung Hypo Real Estate und die zahlreichen Börsengänge und Unternehmenskäufe, die ich begleiten durfte, fordernd und ungemein reizvoll.
Bei Ebner Stolz begann alles mit meinen Stuttgarter „Lehrmeistern“ Eckart Ebner, Gerhard Lempenau und Gerhard Weigl; Vorbildern, von denen ich als junger Berufskollege fachlich und persönlich sehr viel lernen und aufnehmen konnte. Die Berufung zum ersten Partner aus eigenen Reihen zum 1.1.1990 und das darin zum Ausdruck kommende Vertrauen unserer Gründer war zweifellos ein wichtiger persönlicher Meilenstein. Als Partner hatte ich stets großen Freiraum, mich in die Themen einzubringen, die mir besonders wichtig waren. Als bedeutendstes Ereignis in dieser Hinsicht möchte ich die Gespräche zur Fusion mit unseren Hamburger und Kölner Partnerkollegen (damals Mönning & Partner und Bachem Fervers Janssen Mehrhoff) hervorheben, die vor nunmehr zwölf Jahren erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Ein anderes spannendes und durchaus persönlich prägendes Betätigungsfeld lag in den letzten zehn Jahren auf internationaler Ebene: das Engagement für unsere internationale Organisation Nexia, in die wir viel Kraft und Energie hineinstecken, primär mit dem Ziel, eine optimale Betreuung unserer international tätigen Mandanten sicherzustellen.
In allen Bereichen sind es die vielfältigen persönlichen Begegnungen, die den besonderen Reiz meiner Arbeit für Ebner Stolz ausgemacht haben und von denen ich in der Rückschau stets zehren werde.
Und nun zum Abschluss noch die Frage: Wer tritt bei Ebner Stolz und in den verschiedenen Gremien in Ihre Fußstapfen, wenn Sie dann in den Ruhestand gehen?
Den größten Teil meiner Aufgaben hat mein Partnerkollege Christoph Brauchle, mit dem ich seit vielen Jahren vertrauensvoll in einem Team zusammenarbeite, bereits übernommen; das betrifft die Verantwortung für die von uns betreuten Mandate, die Führung unseres Teams und die Leitung des Fachbereichs Wirtschaftsprüfung. Er wird mir auch in der Vertretung von Ebner Stolz im Hauptfachausschuss des IDW nachfolgen. Meine übrigen Aufgaben in den Führungsgremien von Ebner Stolz , bei Nexia und in den beruflichen Organisationen wurden auf verschiedene Kollegen verteilt.