Herr Manson: Mit dem Portal „portailpro.gouv.fr“ wurde in Frankreich im Jahr 2022 ein einheitlicher Online-Dienst zur vereinfachten Erledigung von Steuer-, Sozial- und Zollangelegenheiten eingeführt. Welche Angelegenheiten können Unternehmen über diese Plattform regeln?
Thibauld Manson: Die Website portailpro.gouv.fr ist Teil der Digitalisierungsstrategie der französischen Finanzverwaltung. Sie soll Behördengänge für Unternehmen, insb. für Selbständige, Kleinstunternehmen und KMU sowie für Unternehmensgründer vereinfachen. Unternehmen können damit unabhängig von ihrer Rechtsform und Größe verschiedene Formalitäten auf einer einzigen Plattform erledigen. Dazu gehört z. B. die Einsicht von Akten und die Erfüllung von Deklarationspflichten sowie Zahlungsverpflichtungen.
Darüber hinaus ermöglicht das Portal den Austausch mit den Behörden über ein sicheres elektronisches Nachrichtensystem. Wir nennen das „e-contact“. Außerdem gibt das Portal Unternehmen mittels eines Dashboards einen konsolidierten Überblick über ihre bevorstehenden Steuer-, Sozial- und Zollverpflichtungen.
Zukünftig soll das Portal um zusätzliche Funktionen für Drittanmelder und große Unternehmen erweitert werden. Drittanmelder sind zum Beispiel Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer oder zugelassene Zollvertreter.
Ist das Portal auch für deutsche Unternehmen, die in Frankreich steuerlich aktiv sind, zugänglich?
Thibauld Manson: Ja, alle Unternehmen, die in Frankreich steuerlich registriert sind und über einen professionellen Zugriff („espace professionnel“) bei der Steuer-, Zoll- oder Sozialverwaltung verfügen, können auf das Portal zugreifen. Dies gilt auch für deutsche Unternehmen.
Damit hat die französische Finanzverwaltung beim Thema Digitalisierung einen großen Schritt gemacht: Herr Dr. Nücken, wie schätzen Sie die diesbezügliche Entwicklung in Deutschland ein?
Dr. Sandro Nücken: In Sachen Digitalisierung der Steuerverwaltung gibt Frankreich im Vergleich zu Deutschland aktuell sicherlich das Tempo vor. Von einem Portal wie „portailpro.gouv.fr“ sind wir in Deutschland leider noch weit entfernt. Dabei wäre ein einheitliches Portal, das die Erledigung sämtlicher Steuer- und Zollformalitäten ermöglicht, auch in Deutschland wünschenswert. Auch die Möglichkeit eines gesicherten Nachrichtenaustauschs mit der Finanzverwaltung über ein Portal sorgt für Transparenz und Nahbarkeit der Finanzverwaltung. Das fehlt uns in Deutschland. Die kurzfristige Erreichbarkeit und die Kommunikation mit vielen deutschen Finanzbehörden, insb. dem Bundeszentralamt für Steuern, ist häufig nicht gegeben. Viele deutsche Finanzämter erlauben den zuständigen Sachbearbeitern ja immer noch keine Kommunikation über eigene E-Mailadressen.
Auch beim Thema E-Invoicing hat Deutschland gegenüber Frankreich Nachholbedarf. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht zwar die schnellstmögliche Einführung eines elektronischen Meldesystems für die Erstellung, Prüfung und Weiterleitung von Rechnungen vor, bislang hat sich diesbezüglich aber wenig getan. Durch die neuesten Vorschläge der EU-Kommission „VAT in the Digital Age“ könnte das Thema aber jetzt auch in Deutschland Fahrt aufnehmen.
Beim Thema umsatzsteuerliche Organschaft ist Deutschland hingegen weiter als Frankreich. Während diese in Frankreich erst zum 01.01.2023 eingeführt wurde, kennt das deutsche Umsatzsteuerrecht ein solches Besteuerungskonstrukt bereits seit geraumer Zeit. Über die EU-Konformität der deutschen USt-Organschaft hat nun der EuGH entschieden. Herr Dr. Nücken, können Sie kurz erläutern, worum es bei den Verfahren ging und wie der EuGH entschieden hat?
Dr. Sandro Nücken: Bei beiden Verfahren ging es im Kern darum, ob das deutsche Organschaftssystem den Organträger als Steuerpflichtigen behandeln darf. Nach Unionsrecht liegt es nämlich näher, dass im Fall einer Mehrwertsteuergruppe nicht ein Mitglied der Gruppe - wie der Organträger -, sondern die Gruppe an sich Steuerpflichtiger ist.
Glücklicherweise hat der EuGH jetzt entschieden, dass die deutsche Regelung unionsrechtskonform ist. Ansonsten hätten dem deutschen Haushalt Steuerausfälle in Milliardenhöhe gedroht. Offen bleibt nach den EuGH-Entscheidungen allerdings, ob die Innenleistungen innerhalb des Organkreises weiterhin nicht steuerbar sind oder der Umsatzsteuer unterliegen. Die Ausführungen des EuGH waren hier nicht ganz eindeutig. Es bleibt abzuwarten, wie der BFH in seinen Folgeurteilen mit diesem Punkt umgeht. Insgesamt muss man aber weiterhin sagen, dass die deutschen Organschaftsregelungen dringend reformbedürftig sind. Es bestehen hier einfach zu viele Rechtsunsicherheiten, gerade auch im Zusammenspiel mit den Vorgaben des Unionsrechts. Frankreich hat bei diesen EuGH-Verfahren weit weniger Bauchschmerzen gehabt, weil die neuen französischen Regelungen zur Mehrwertsteuergruppe bereits die Gruppe als Steuerpflichtigen vorsehen.
Wie sehen die neuen Regelungen zur umsatzsteuersteuerlichen Organschaft in Frankreich im Kern aus, Herr Manson?
Thibauld Manson: Wir haben uns in Frankreich an der „rechtlichen Fiktion“ von Art. 11 der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie orientiert. Demnach werden Personen mit finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Verbindungen als ein Steuerpflichtiger betrachtet. Die einzelnen Mitglieder der Gruppe verlieren ihren Status als Steuerpflichtige. An ihre Stelle tritt die Mehrwertsteuergruppe. Dies ist auch in den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten so geregelt.
Die Stärke des französischen Systems ist seine Flexibilität. Wenn Personen die oben erwähnten Verbindungskriterien erfüllen, können sie sich entscheiden, ob sie dem einzigen Steuerpflichtigen - also der Mehrwertsteuergruppe - beitreten wollen oder nicht.
Vertreten wird die Mehrwertsteuergruppe durch ein Mitglied der Gruppe. Dieses kann frei aus den Einheiten, die die Gruppe bilden, gewählt werden und ist dann für die Erklärung und Zahlung der Mehrwertsteuer zuständig.
Zu einer weiteren französischen Neuregelung: Seit dem 01.01.2022 wird die Einfuhrumsatzsteuer in der Umsatzsteuererklärung erklärt. Was ist der Hintergrund für diese Regelung, Herr Manson?
Thibauld Manson: Wir haben mit Wirkung zum 01.01.2022 die Verwaltung und Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer von den Zollbehörden auf die Steuerverwaltung (DGFIP) übertragen. Dadurch soll die Geltendmachung der Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuer für Unternehmen mit einer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer in Frankreich vereinfacht werden. Seit dem 01.01.2022 wird die Erklärung und Zahlung der Einfuhrumsatzsteuer direkt in der Umsatzsteuererklärung vorgenommen. Unternehmen können die Einfuhrumsatzsteuer damit gleichzeitig erklären und als Vorsteuer abziehen. Dadurch erleiden sie keine Liquiditätsnachteile mehr. Diese entstanden zuvor dadurch, dass die Einfuhrumsatzsteuer zuerst bei der Zollabfertigung an die Zollbehörden zu zahlen war und erst später in den Umsatzsteuererklärungen abgezogen werden konnte.
Um das Verfahren für Unternehmen weiter zu vereinfachen, wird die Umsatzsteuererklärung von der Steuerverwaltung vorausgefüllt. Die Unternehmen können über einen Online-Dienst Einzelheiten zu den vorausgefüllten Beträgen in ihrer Steuererklärung abrufen und diese gegebenenfalls korrigieren.
Im Rahmen der Einführung dieses Verfahrens wird ausländischen Unternehmen, die Einfuhren nach Frankreich vornehmen und noch keine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer haben, eine solche zugeteilt.
Durch den Einbezug von Einfuhren in die Umsatzsteuererklärung können gleichzeitig Vorsteuern geltend gemacht werden, sodass Vorauszahlungen nicht notwendig sind. Herr Dr. Nücken, könnte dies auch ein Vorbild für die zukünftige Abwicklung der Einfuhrumsatzsteuer in Deutschland sein?
Dr. Sandro Nücken: Vor ein paar Jahren hätte ich gesagt „auf jeden Fall“. Denn wir hatten in Deutschland lange Zeit dasselbe Problem wie Frankreich. Auch bei uns bestand für den Unternehmer eine Liquiditätslücke bei der Einfuhrumsatzsteuer. Das war vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Importnationen, wie zum Beispiel den Niederlanden, ein Standortnachteil.
Mittlerweile haben wir in Deutschland aber einen etwas anderen Weg gewählt: Der Gesetzgeber hat vor kurzem die Fälligkeit der Einfuhrumsatzsteuer hinausgeschoben. Sofern der einführende Unternehmer ein Aufschubkonto hat, ist die Einfuhrumsatzsteuer nun erst am 26. Tag des übernächsten der Einfuhr folgenden Monats fällig. Daher muss der Unternehmer die Einfuhrumsatzteuer meistens erst zahlen, nachdem er sie über den Vorsteuerabzug schon zurückerhalten hat. Dadurch ergibt sich in Deutschland jetzt sogar ein Liquiditätsvorteil - und dieser ist auch noch zinslos! Allerdings muss der Unternehmer hierfür ein Aufschubkonto haben. Wer noch kein Aufschubkonto beantragt hat, sollte dies daher unbedingt tun.
Unabhängig davon hat sich die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag aber auch zum Ziel gesetzt, die Einfuhrumsatzsteuer weiterzuentwickeln, um im europäischen Wettbewerb gleiche Bedingungen zu erreichen. Insofern ist es möglich, dass sich der deutsche Gesetzgeber dem Thema noch einmal grundsätzlich nähert und damit doch den französischen Weg einschlägt, der systematisch sicherlich überzeugender ist.
Herr Manson: Gibt es steuerliche Entwicklungen bzw. Neuregelungen in Deutschland, die für Sie als französischer Steuerattaché besonders interessant sind?
Thibauld Manson: Da Deutschland ein wichtiger Partner Frankreichs ist, verfolgen wir sämtliche Maßnahmen der deutschen Steuerverwaltung mit großem Interesse.
Insb. einige der jüngsten Entwicklungen, wie die Reform der Betriebsprüfungsverfahren oder die mit der Umsetzung der DAC7-Richtlinie geschaffenen Meldepflichten für Plattformbetreiber, sind für uns besonders interessant. Dazu gehören auch die Umsetzung der globalen Mindestbesteuerung in Deutschland sowie die Maßnahmen zur Digitalisierung der (Steuer-)Verwaltung, die im Koalitionsvertrag der „Ampel“-Parteien vorgesehen sind.
Längerfristig werden Themen im Zusammenhang mit der Umsetzung der DAC8-Richtline, wie beispielsweise die Besteuerung von Krypto-Assets, insbesondere Kryptowährungen, für uns wichtig werden.
Und umgekehrt: Welche Themen stehen aktuell noch auf der Agenda der französischen Finanzverwaltung, die auch für in Frankreich aktive deutsche Unternehmen relevant sein könnten?
Thibauld Manson: Für deutsche Unternehmen ist sicherlich die Fortsetzung der digitalen Transformation der französischen Finanzverwaltung von besonderem Interesse, insb. die Einführung des sog. „e-Invoicing“, also der elektronischen Rechnungsstellung. Gerade für ausländische Unternehmen bieten diese Maßnahmen erhebliche Erleichterungen, da damit sowohl räumliche als auch sprachliche Barrieren abgebaut werden.
Nicht zuletzt trägt die Digitalisierung dazu bei, die guten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland aufrechtzuerhalten. Auch im Jahr 2023, das im Zeichen der zunehmenden Internationalisierung unserer Vorschriften steht, spielt dies eine tragende Rolle.
Neben der Ausgestaltung der globalen Mindestbesteuerung sollten deutsche Unternehmen zudem die konkrete Umsetzung des Programms „VAT in the Digital Age“ der Europäischen Kommission im Auge behalten.
Auch in Frankreich sind die Energiepreise stark angestiegen. Mit welchen Maßnahmen unterstützt die französische Regierung Unternehmen?
Thibauld Manson: Seit Juli 2022 wurden in Frankreich verschiedene steuerliche und regulatorische Maßnahmen ergriffen, um Unternehmen angesichts der steigenden Energiepreise zu unterstützen.
So wurde die Stromsteuer (TICFE) auf das europarechtlich zulässige Minimum gesenkt und ein sog. ARENH-Mechanismus eingeführt, mit dem ein erheblicher Teil des verbrauchten Stroms zu einem Festpreis anstelle des Marktpreises bezogen werden kann. Diese Maßnahmen sollen im Wesentlichen auch im Jahr 2023 gelten.
Zudem sollen verschiedene Förder- und Beihilfeprogramme sowie staatliche Darlehen Unternehmen und Privatverbraucher von den gestiegenen Energiekosten entlasten. Dazu zählen bspw. das sog. „Energiepreisschild“ (Bouclier Tarifaire), welches die Erhöhung der Stromrechnung auf einen Maximalbetrag begrenzt, und ein sog. „Stromdämpfer“ (l‘amortisseur électricité) für KMU, die nicht von der Begünstigung des „Energiepreisschilds“ profitieren können.
Daneben hat sich die Regierung u. a. dazu verpflichtet, faire Energieverträge zu gewährleisten. Dazu ließ sie zahlreiche Energieversorger eine Verpflichtungserklärung unterschreiben.
Weiterführende Informationen zu den Hilfsmaßnahmen sind hier abrufbar.
Wie unterstützt Ebner Stolz seine Mandanten mit Bezug nach Frankreich dabei, mit diesen aktuellen Entwicklungen Schritt zu halten, Herr Dr. Nücken?
Dr. Sandro Nücken: Bei Ebner Stolz verfügen wir über besondere Erfahrungen und Kompetenzen im Hinblick auf die deutsch-französische Wirtschaft. Wir haben Mitarbeiter, die gebürtige Franzosen sind, längere Zeit in Frankreich gearbeitet oder dort studiert haben. Diese Kompetenzen haben wir im Ebner Stolz French Desk gebündelt. Die Mitglieder des French Desk kommen praktisch aus allen Fachdisziplinen, die bei Ebner vertreten sind und beraten laufend im deutsch-französischen Kontext. Dadurch können wir den Mandanten bei nahezu allen Situationen helfen, die im deutsch-französischen Geschäftsverkehr auftreten. Das reicht von der Projektbetreuung oder Unternehmensgründung in Frankreich bis hin zur Abklärung einzelner steuerlicher oder rechtlicher Fragen. Sofern erforderlich, greifen wir hierzu auf unsere Beraterkollegen in Frankreich zurück, zu denen wir enge Kontakte unterhalten. Dadurch können wir unseren Mandanten schnell und tagesaktuell helfen.