Sehr geehrter Herr Dr. Nagel, welche aktuellen Trends sehen Sie in der Restrukturierungsbranche?
Nach Bewältigung der Lehmann-Pleite erleben wir eine lange Hochkonjunkturphase, in der die Zahl der Insolvenzen und Restrukturierungen auf ein historisches Tief gesunken ist. Nun verdichten sich die Zeichen für eine Trendwende. Auch deswegen haben wir unser Restrukturierungsteam verstärkt, zuletzt mit Markus Mühlenbruch und Dr. Thomas Fuchs in unserem Stuttgarter Büro. Wenn die Fallzahlen langsam wieder steigen, wird es spannend, wie sich dies auf die Restrukturierungspraxis der Banken auswirkt. Denn da ihre Intensive-Care-Abteilungen in den letzten Jahren wenig zu tun hatten, haben sie diese im Zuge der allgemeinen Konsolidierung verkleinert. Nun hören wir aus Bankenkreisen zunehmend, dass es künftig an Kapazitäten fehlen wird. Gerade in kleineren Fällen werden dann externe Berater für bislang originäre Bankenaufgaben hinzugezogen, z. B. die Sicherheitenpoolführung. Das könnte sich nachteilig auf die betroffenen Unternehmen auswirken.
Können Sie dies ein wenig ausführen?
Erfahrungsgemäß wird der Brei durch viele Köche nicht besser: Je mehr Parteien involviert sind, desto mehr Reibungspunkte entstehen und desto größer ist das Risiko für Missverständnisse und Interessenkonflikte. Wenn dann die Banken aus Kapazitätsgründen eine passivere Rolle spielen und – was ich persönlich für wahrscheinlich halte – auch die Bereitschaft zum NPL-Handel wieder zunimmt, steigen die Komplexität und die Kosten für „Berater aller Art“. Zudem dauert alles länger. Es würde mich nicht überraschen, wenn der Anteil außergerichtlicher Sanierungen sinkt.
Der neue Sanierungsstandard IDW S6 ist nun seit einigen Wochen final veröffentlicht. Wie schätzen Sie die Praxistauglichkeit ein?
Bernhard Steffan, mein Partnerkollege bei Ebner Stolz, hat als Vorsitzender des IDW-Fachausschusses „Sanierung und Insolvenz“ die Neufassung maßgeblich mitgestaltet. Damit ist auch die gesammelte Praxiserfahrung von Ebner Stolz in den Prozess eingeflossen. Persönlich bewerte ich die Novelle positiv. Sie bringt mehr Klarheit bzgl. der für die Beurteilung der nachhaltigen Wettbewerbsfähigkeit heranzuziehenden KPIs und hat wichtige aktuelle Themen aufgegriffen, wie den digitalen Reifegrad des Unternehmens sowie die digitale Robustheit seines Geschäftsmodells. Der Megatrend Digitalisierung beeinflusst viele Unternehmen immens bis hin zur Disruption; viele andere sind nur marginal betroffen. Insofern bedarf es einer sehr differenzierten Betrachtung. Es gibt aber auch Stimmen, die Digitalisierung im S6-Kontext für überbetont halten – und dem kann ich durchaus etwas abgewinnen. Denn die Würdigung relevanter Trends war bei der Definition des Leitbilds und der Strategie des sanierten Unternehmens schon immer Pflicht – und bei Ebner Stolz gelebte Praxis. Losgelöst davon werden künftig Umsetzungskompetenz und -geschwindigkeit praxisnaher Restrukturierungmaßnahmen durch ein stringentes Programm-Management wichtiger. Denn wenn sich die Märkte immer schneller verändern, bleibt Unternehmen immer weniger Zeit, darauf zu reagieren. Auch deswegen gilt es weiterhin, die Rahmenbedingungen für Sanierungen regelmäßig kritisch zu hinterfragen und an aktuelle Entwicklungen anzupassen.
Hinweis
Dieses Interview ist im „Handelsblatt Journal“ zum Thema „Restrukturierung & Transformation“ im Oktober 2018 erschienen.