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Änderungsbedarf bei der Unternehmensbesteuerung aus Sicht der Wissenschaft
Am 23.02.2025 wird der Bundestag neu gewählt. Damit beginnt in wenigen Wochen mit der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestags die 21. Legislaturperiode. Grund genug, den Reformbedarf im Unternehmenssteuerrecht genauer auszuloten, um dem neuen Gesetzgeber Vorschläge an die Hand zu geben.
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Wir haben uns dazu mit Prof. Dr. Joachim Hennrichs, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Bilanz- und Steuerrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und geschäftsführender Direktor des Instituts für Nachhaltigkeit, Unternehmensrecht und Reporting (INUR), unterhalten. Herr Prof. Dr. Hennrichs ist Mitglied der Expertenkommission „Vereinfachte Unternehmensteuer“, die am 12.07.2024 dem ehemaligen Bundesfinanzminister Christian Lindner einen umfassenden Bericht mit zahlreichen Vorschlägen vorgelegt hat, um das Steuerrecht moderner und zukunftsfest zu machen.
Herr Prof. Dr. Hennrichs, ein kurzer Blick zurück auf Ihre Tätigkeit in der Expertenkommission „Vereinfachte Unternehmensteuer“. Was waren die wesentlichen Erkenntnisse der Kommissionsarbeit? Brauchen wir eine große Reform im Stile des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 oder befürworten Sie eher minimaloperative Eingriffe in das bestehende Besteuerungssystem?
Vielen Dank für die Einladung! Ja, wir sind davon überzeugt, dass wir eine große Reform brauchen, eine echte Modernisierung des Unternehmenssteuerrechts, mit strukturellen Vereinfachungen, Reduzierungen der Compliance-Lasten und auch einer spürbaren Steuerentlastung. Mit “klein-klein”, hier ein neuer a-Paragraph und dort ein neuer b-Paragraph, ist es nicht getan.
Deutschland und die EU stehen vor herausfordernden Zeiten. Die Herausforderungen beruhen teilweise auf geopolitischen Veränderungen. Insb. der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Sicherheits- und Energiearchitektur Europas grundlegend verändert. Aber die Probleme des europäischen und deutschen Wirtschaftsraums sind auch hausgemacht: Die Politik hat sich abhängig gemacht von anderen Mächten – von Russland in der Energiepolitik, von China in der Wirtschaftspolitik, und von den USA in der Sicherheitspolitik. Wirtschaft und Gesellschaft ersticken in Regulierungen und Bürokratie. Und es ist ein riesiger Investitionsstau angewachsen, der irgendwie finanziert werden muss.
Der Staat kann seine Ausgaben bekanntlich prinzipiell aus zwei Quellen finanzieren: aus Steuern oder aus neuen Schulden. Letzteren setzen die Schuldenbremse des GG und letztlich auch Grundsätze ökonomischer Vernunft Grenzen. Erstere, also Steuern, sprudeln zwar noch; noch nie waren die Steuereinnahmen der öffentlichen Hände so hoch wie heute, wir sind ein Hochsteuerland! Aber: Die Wirtschaft, die bislang Garant unseres Wohlstands und unseres Steueraufkommens war, strauchelt nun sichtbar. Das liegt teils an den angedeuteten geostrategischen Veränderungen, teils an Verschiebungen der internationalen Wettbewerbssituation, teils aber eben auch an verfehlter Steuer-, Energie- und Industriepolitik.
Die Investitionsbedingungen haben sich in den letzten Jahren massiv zu Lasten des heimischen Standorts verschoben. Das zeigt sich daran, dass neue Investitionen so gut wie nicht mehr in Deutschland stattfinden, sondern in anderen Regionen der Welt. Mittlerweile werden auch vorhandene Kapazitäten verlagert. Kein Tag mehr, an dem nicht darüber berichtet werden muss, wo überall und wie viele Arbeitsplätze verloren gehen, Unternehmen insolvent werden oder abwandern. Das liegt natürlich nicht allein an den steuerlichen Rahmenbedingungen, vielleicht nicht einmal primär an diesen. Aber das Steuerrecht ist dennoch eben auch ein wichtiger Baustein der relevanten Investitionsbedingungen
Daher wäre eine grundlegende Modernisierung der Unternehmensbesteuerung dringend nötig, sogar drängender denn je! Das betrifft nicht allein den Steuersatz. Der muss ebenfalls runter, keine Frage. Donald Trump hat bereits eine neue US-Steuerreform angekündigt, mit einer weiteren Absenkung des Unternehmenssteuersatzes auf 15 %. Will Deutschland da wirklich weiter untätig bleiben und bei 30+x % verharren? Aber der Modernisierungsbedarf betrifft auch die Steuerstrukturen. Denn auch im Steuerrecht wachsen die Compliance-Kosten ständig, weil vieles unnötig komplex und kompliziert ist. Dadurch werden Ressourcen verschwendet und falsch allokiert.
Kurzum: In der Tat, eine grundlegende Modernisierung des Unternehmenssteuerrechts tut Not!
Bereits in der nun vorzeitig beendeten Legislaturperiode waren von Beginn an die Rufe nach Steuerbegünstigungen zur Stärkung der Wirtschaft laut vernehmbar. Ist das aus rechtswissenschaftlicher Sicht der richtige Weg oder wären da nicht staatliche Fördermaßnahmen, wie man sie vermehrt im außereuropäischen Ausland sieht, der bessere Ansatz?
Ich denke, wir brauchen sowohl eine strukturelle Reform des Unternehmenssteuerrechts, durch die Kräfte und unternehmerisches Engagement wieder freigesetzt statt behindert werden. Aber wir brauchen auch die steuerliche Förderung von Investitionen, insb. zur Bewältigung der grünen Transformation der Gesellschaft und im Kampf gegen die Herausforderungen unserer Zeit. Allein mit regionalen CO2-Einsparungen bspw. werden wir den Klimawandel nicht bremsen, wir brauchen dringend technologischen Fortschritt und Innovationen. Aber das gilt nicht allein für das Gelingen der grünen Transformation, sondern auch etwa im Bereich der Digitalisierung einschließlich künstlicher Intelligenz, der Gesundheitsversorgung, der Energieversorgung und -sicherheit, der Verteidigung usw.
Wir sollten deshalb auch mit steuerlichen Mitteln alles dafür tun, dass neue Technologien weiter und wieder bei uns entwickelt und bestenfalls auch hier produziert werden, dass sich Investitionen wieder bei uns ansiedeln. Ohne ökonomischen Erfolg gibt es keinen Fortschritt und auch keinen nachhaltig finanzierbaren Sozialstaat. Ökonomischer Erfolg, Bewältigung der großen Krisen, sozialer Frieden und politische Stabilität, das alles hängt zusammen. Und die Wirtschaft ist für all das das Rückgrat. “It’s the economy, stupid!” ist nicht zu Unrecht ein geflügeltes Wort geworden.
Wenn Sie gebeten würden, der neuen Ministerin oder dem neuen Minister für Finanzen Vorschläge für eine Verbesserung die bestehenden Vorgaben zur Besteuerung von Unternehmensgewinnen vorzulegen, was stünde ganz oben auf Ihrer Liste?
In der Expertenkommission haben wir vielfältige Vorschläge erarbeitet. Ich halte sie alle für wichtig und weiterführend. Es ist zwar nachvollziehbar, nach “Quick Wins” zu fragen und einzelne Vorschläge zu priorisieren. Aber erstens haben wir oft bei unserer Arbeit gemerkt: “Alles hängt mit allem zusammen!” Einzelne Vorschläge herauszupicken, ist daher durchaus gefährlich. Insb. besteht die Gefahr, dass Finanzverwaltung und Politik sich nur diejenigen unserer Vorschläge heraussuchen, die ihnen “genehm” sind, die möglichst wenig Steueraufkommen kosten oder sogar aufkommenserhöhend wirken. Bspw. schlagen wir eine Ausweitung der Immobilienverstrickung gemäß § 23 EStG nur als Komplementärmaßnahme zu der von uns befürworteten Abschaffung der Figuren des Sonderbetriebsvermögens bei Mitunternehmerschaften und der Betriebsaufspaltung vor. Unser Vorschlag sollte also bitte nicht isoliert “herausgepickt” und als Vorwand für eine bloße Verschärfung der Immobilienbesteuerung genommen werden.
Zweitens sind manche unserer Vorschläge zwar teils grundlegender und systematischer Natur und stehen deshalb nicht ganz oben auf dem Wunschzettel der gebeutelten Wirtschaft. Aber sie würden doch wesentliche Beiträge zur Modernisierung des deutschen Unternehmenssteuerrechts bewirken. So ist etwa die Idee eines erweiterten Optionsmodells vor allem systematisch begründet, weil dadurch dem bestehenden Dualismus der Unternehmensbesteuerung die Schärfe genommen würde. Oder: Die Vorschläge zur grundlegenden Vereinfachung der Mitunternehmerbesteuerung sind auf den ersten Blick vielleicht ebenfalls keine besonderen “eye catcher”, sie würden aber ganz erhebliche Entlastungen des Mittelstandes bei der steuerlichen Compliance bewirken und auch die Finanzverwaltung entlasten. Kurzum: Es lohnt der Blick auf das gesamte Spektrum unserer Vorschläge.
Dies vorausgeschickt, lassen sich aber vielleicht trotzdem einige besonders wichtige Teilaspekte hervorheben. Für mich sind das insb. unsere Vorschläge zum Umgang mit Verlusten - hier muss sich der gesetzgeberische "mindset" ändern! -, zur Angleichung von Handels- und Steuerbilanz (was zu einer deutlichen Vereinfachung der steuerlichen Gewinnermittlung führen würde), zur Angleichung der Bemessungsgrundlagen von Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer nebst typisierter Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Körperschaftsteuer und die vorgeschlagenen Flexibilisierungen im Umstrukturierungs- sowie Sanierungssteuerrecht. Aber nochmals: Viele beachtenswerte Vorschläge finden sich auch in den anderen Abschnitten unseres Berichts.
Unternehmen ab einer gewissen Größe sind überwiegend grenzüberschreitend tätig. Im internationalen Vergleich und auch bei Fragen z. B. der Anrechnung deutscher Steuern auf im Ausland anfallende Steuern sehen sich diese Unternehmen vor der Herausforderung, im Ausland unsere Besonderheit der Gewerbesteuer zu erklären. Sollte hier nicht mal der große Schnitt gemacht und die Gewerbesteuer abgeschafft werden? Die Finanzierung der Gemeinden könnte doch auch auf anderem Wege sichergestellt werden.
Das haben wir natürlich erwogen, letztlich aber verworfen, obwohl es bei uns niemanden gibt, der die Gewerbesteuer in ihrer derzeitigen Form verteidigt. Sicher könnte man die Gemeindefinanzierung anders und besser machen, und zahlreiche Vorschläge dazu liegen ja schon seit langem auf dem Tisch. Nur war dieser Kampf bisher eher Donquichotterie. Ich glaube jedenfalls nicht an eine Abschaffung der Gewerbesteuer auf absehbare Zeit.
Was wir stattdessen vorschlagen, ist eine Angleichung der Bemessungsgrundlagen von Gewerbesteuer und Körperschaftsteuer nebst typisierter Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Körperschaftsteuer. Dadurch würde die Gewerbesteuer letztlich den Charakter einer Annexsteuer erlangen. Nicht optimal, aber damit könnte ich leben.
Auch dann stellen sich allerdings noch genügend Fragen zur Reform der Gemeindefinanzierung. Denn zahlreiche unserer Vorschläge haben mittelbar Auswirkungen auf das Gewerbesteueraufkommen. Da wird es unter den Gemeinden Gewinner und Verlierer geben, und das verlangt nach Ausgleichsmechanismen.
Unternehmen müssen ihre Verluste steuerlich berücksichtigen können. Die aktuelle Gesetzeslage kommt diesem Grundsatz zwar nach, allerdings mit deutlichen Einschränkungen, sowohl was den Verlustrücktrag als auch den Verlustvortrag anbelangt. Zur Liquiditätsstärkung in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten wäre ein deutlich umfassender Verlustrücktrag wünschenswert. Oder ist das rechtsdogmatisch sogar geboten?
Ja, unbedingt. Das Thema Verluste und ihre steuerliche Berücksichtigung ist uns besonders wichtig. Hier muss u. E. ein grundlegendes Umdenken stattfinden.
Unternehmerisches Handeln ist in besonderem Maße risikobehaftet. Ein Steuerrecht, das wirtschaftliches Tun korrekt und angemessen würdigen will, darf deshalb nicht allein unternehmerische Gewinne erfassen, sondern muss auch Verluste vollständig und symmetrisch abbilden.
Die Kommission verlangt daher vom Gesetzgeber einen breitflächigen Schwenk hin zu einer vollständigen, realitätsgerechten und zeitnahen Abbildung von betrieblichem Aufwand und unternehmerischen Verlusten. Das ist ein Gebot des objektiven Nettoprinzips und der steuerlichen Symmetrie und Fairness. Die über viele Jahrzehnte erkennbar gewordene Tendenz des Steuergesetzgebers, die steuerliche Berücksichtigung von Verlusten einzuschränken, muss gestoppt und in ihr Gegenteil gewendet werden.
Konkret schlagen wir deshalb vor, den Verlustrücktrag sowohl zeitlich als auch betragsmäßig deutlich auszuweiten und auf die Gewerbesteuer zu erstrecken. Außerdem sollten die Beschränkungen des Verlustvortrags durch die sog. Mindestbesteuerung ersatzlos gestrichen werden. Zum Kontext zeitnahe steuerliche Berücksichtigung von Verlusten gehören außerdem unsere Vorschläge zur sachgerechten Abbildung von Rückstellungen in der Steuerbilanz. All das wird zugegeben politisch nicht einfach. Aber gerade in Zeiten wirtschaftlicher Umbrüche und disruptiver Entwicklungen ist es wichtig, dass das Steuerrecht nicht nur den “guten Tropfen”, sondern auch den “schlechten Tropfen” nimmt.
Lieber Herr Prof. Dr. Hennrichs, vielen Dank für das Gespräch. Hoffen wir, dass die Vorschläge der Expertenkommission „Vereinfachte Unternehmensteuer“ und Ihre Ausführungen hier in der neuen Legislaturperiode Gehör finden.
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