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Umsatzsteuer: Begriff der "vollständigen Anschrift"

FG Baden-Württemberg 21.4.2016, 1 K 1158/14

Der er­ken­nende Se­nat schließt sich hin­sicht­lich des Be­griffs der "vollständi­gen An­schrift" der wei­ten Aus­le­gung des EuGH an. Dafür spricht nicht nur der Wort­laut "An­schrift" im Ge­gen­satz zum "Sitz der wirt­schaft­li­chen Tätig­keit", son­dern auch der Grund­satz der Rechts­si­cher­heit.

Der Sach­ver­halt:
Strei­tig war, ob die Kläge­rin Vor­steu­ern aus Rech­nun­gen ei­nes sog. mis­sing tra­ders ab­zie­hen durfte. Die Kläge­rin ist eine GmbH und Or­ganträge­rin in ei­ner um­satz­steu­er­li­chen Or­gan­schaft mit der S-GmbH. Die S-GmbH be­treibt einen Schrott­han­del. Sie hatte im Streit­jahr 2008 von der MJ-GmbH Stahl­schrott, ver­teilt auf neun Ein­zel­lie­fe­run­gen, er­hal­ten. Den Schrott lie­fer­ten Lkws mit un­ga­ri­schen Kenn­zei­chen. Die Schrott­lie­fe­run­gen um­fass­ten im Streit­jahr rd. 0,3 % der Ein­kaufs­werte bzw. der Ein­kaufs­ton­nage der S-GmbH. Die Ver­ant­wort­li­chen der bei­den Ge­sell­schaf­ten hat­ten kei­nen persönli­chen Kon­takt. Die S-GmbH fer­tigte für jede Schrott­an­lie­fe­rung auf die MJ-GmbH aus­ge­stellte Wie­ge­scheine.

Im Fe­bruar 2008 bat die S-GmbH den Steu­er­be­ra­ter der MJ-GmbH um Über­sen­dung ei­ner Be­schei­ni­gung, dass die MJ-GmbH ein um­satz­steu­er­pflich­ti­ges Un­ter­neh­men sei. In der An­frage gab die S-GmbH die ihr be­kannte An­schrift der MJ-GmbH an. Der Steu­er­be­ra­ter bestätigte der S-GmbH, dass die MJ-GmbH ihre Umsätze nach den all­ge­mei­nen Vor­schrif­ten des Um­satz­steu­er­ge­set­zes ver­steu­ere und zum Vor­steu­er­ab­zug be­rech­tigt sei. Die S-GmbH er­teilte für die ein­zel­nen Schrott­lie­fe­run­gen Gut­schrif­ten. Darüber hin­aus stellte die MJ-GmbH der S-GmbH für die Schrott­lie­fe­run­gen Rech­nun­gen mit Aus­weis der Um­satz­steuer aus. Die Rech­nun­gen wa­ren vom Ge­schäftsführer Q. un­ter­schrie­ben. Sie wur­den der Kläge­rin per Fax von ei­ner Fax­num­mer mit dem Ab­sen­der "M-GmbH" über­mit­telt. Die MJ-GmbH nannte über­dies die ihr vom Fi­nanz­amt für Körper­schaf­ten er­teilte Steu­er­num­mer.

Die Steu­er­fahn­dung kam zu dem Er­geb­nis, die MJ-GmbH sei in ein Um­satz­steu­er­ka­rus­sell mit un­ga­ri­schem Schrott ein­ge­bun­den ge­we­sen. Die Staats­an­walt­schaft stellte die Steu­er­straf­ver­fah­ren ge­gen die drei Ge­schäftsführer der S-GmbH je­doch wie­der ein. Das Fi­nanz­amt kürzte die Vor­steu­ern im geänder­ten Um­satz­steu­er­be­scheid 2008. Es war der An­sicht, der Vor­steu­er­ab­zug setze eine Rech­nung vor­aus, in der u.a. der Sitz des leis­ten­den Un­ter­neh­mers rich­tig an­ge­ge­ben sei. Daran fehlte es im Streit­fall. Un­ter der An­schrift habe sich le­dig­lich ein Büro­ser­vice­un­ter­neh­men be­fun­den. Tatsäch­lich sei Un­garn der Sitz der MJ-GmbH ge­we­sen.

Das FG gab der hier­ge­gen ge­rich­te­ten Klage statt. Al­ler­dings wurde we­gen grundsätz­li­cher Be­deu­tung der Rechts­sa­che die Re­vi­sion zu­ge­las­sen.

Die Gründe:
Der Kläge­rin steht der Vor­steu­er­ab­zug aus den Rech­nun­gen der MJ-GmbH im Steu­er­fest­set­zungs­ver­fah­ren zu. Die Rech­nun­gen der MJ-GmbH wa­ren ord­nungs­gemäß. Sie ga­ben die zu­tref­fende An­schrift des leis­ten­den Un­ter­neh­mers (MJ-GmbH) an.

Nach Auf­fas­sung des BFH er­for­dert das Merk­mal "vollständige An­schrift" die An­gabe der zu­tref­fen­den An­schrift des leis­ten­den Un­ter­neh­mers, un­ter der er seine wirt­schaft­li­chen Ak­ti­vitäten ent­fal­tet. Der BFH be­ruft sich da­bei u.a. auf das EuGH-Ur­teil vom 28.6.2007 (C-73/06, Plan­zer Lu­xem­bourg), das zum "Sitz der wirt­schaft­li­chen Tätig­keit" i.S.v. Art. 1 Nr. 1 der Drei­zehn­ten Richt­li­nie 86/560/EWG des Ra­tes vom 17.11.1986 zur Har­mo­ni­sie­rung der Rechts­vor­schrif­ten der Mit­glied­staa­ten über die Um­satz­steu­ern - Ver­fah­ren der Er­stat­tung der Mehr­wert­steuer an nicht im Ge­biet der Ge­mein­schaft ansässige Steu­er­pflich­tige (Richt­li­nie 86/560/EWG) er­gan­gen ist.

Der EuGH hat den Be­griff der "vollständi­gen An­schrift" bis­her je­doch nicht ausdrück­lich kon­kre­ti­siert. Der Be­griff wird - ab­ge­se­hen von "Post­an­schrift" in Art. 361 Abs. 1b MwSt­Sys­tRL im Rah­men der Son­der­re­ge­lung für nicht in der Ge­mein­schaft ansässige Steu­er­pflich­tige, die elek­tro­ni­sche Dienst­leis­tun­gen an Nicht­steu­er­pflich­tige er­brin­gen - in kei­ner an­de­ren Vor­schrift der MwSt­Sys­tRL ver­wen­det. Der EuGH ließ al­ler­dings zu­letzt den Vor­steu­er­ab­zug aus Rech­nun­gen zu, in de­nen als Sitz des leis­ten­den Un­ter­neh­mers eine An­schrift an­ge­ge­ben war, an der ein Gebäude im "her­un­ter­ge­kom­me­nen Zu­stand" stand, das "keine wirt­schaft­li­che Ak­ti­vität ge­statte", da dies nicht aus­schließe, dass die Tätig­kei­ten an an­de­ren Or­ten als dem Ge­sell­schafts­sitz ausgeübt würden (EuGH-Urt. v. 22.10.2015, C-277/14, PPUH Steh­cemp). Da­bei wur­den keine Min­des­ter­for­der­nisse für eine "vollständige An­schrift" ge­nannt. Es genügte of­fen­sicht­lich die An­gabe des han­dels­recht­li­chen Ge­sell­schafts­sit­zes.

Der er­ken­nende Se­nat schließt sich der wei­ten Aus­le­gung des EuGH an. Dafür spricht nicht nur der Wort­laut "An­schrift" im Ge­gen­satz zum "Sitz der wirt­schaft­li­chen Tätig­keit", son­dern auch der Grund­satz der Rechts­si­cher­heit. Da­nach müssen "die Vor­schrif­ten des Uni­ons­rechts ein­deu­tig sein" und ihre An­wen­dung muss für die Be­trof­fe­nen vor­her­seh­bar sein, "wo­bei die­ses Ge­bot der Rechts­si­cher­heit in be­son­de­rem Maß gilt, wenn es sich um Vor­schrif­ten han­delt, die fi­nan­zi­elle Kon­se­quen­zen ha­ben können, denn die Be­trof­fe­nen müssen in der Lage sein, den Um­fang der ih­nen durch diese Vor­schrif­ten auf­er­leg­ten Ver­pflich­tun­gen ge­nau zu er­ken­nen". Zu­dem "müssen die Rechts­nor­men der Mit­glied­staa­ten auf den vom Uni­ons­recht er­fass­ten Ge­bie­ten ein­deu­tig for­mu­liert sein, so dass den be­trof­fe­nen Per­so­nen die klare und ge­naue Kennt­nis ih­rer Rechte und Pflich­ten ermöglicht wird, und die in­ner­staat­li­chen Ge­richte in die Lage ver­setzt wer­den, de­ren Ein­hal­tung si­cher­zu­stel­len".

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