Mehr Mitspracherechte von Behörden bei Zulassungsverfahren von Pflanzenschutzmitteln?
Möchte ein Hersteller Pflanzenschutzmittel in einem Mitgliedstaat der EU verkaufen, benötigt er dafür nicht zwingend die Zulassung des Mittels in dem jeweiligen Mitgliedstaat, in dem das Mittel verkauft werden soll. Vielmehr kann sich der Hersteller den Mitgliedstaat aussuchen, in dem er einen Antrag auf Zulassung stellt. Dies stößt auf Missfallen des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL).
Bestimmte Mitgliedstaaten müssen diese Zulassung dann grundsätzlich akzeptieren. Ermöglicht wird dieses Vorgehen durch das sog. Verfahren der gegenseitigen Anerkennung nach Art. 40, 41 der EU-Pflanzenschutzmittelverordnung (VO [EG] 1107/2009). Das BVL hat bereits mehrfach ausländische Pflanzenschutzmittelzulassungen nicht anerkannt und ist bisher mit seinen Entscheidungen vor den Verwaltungsgerichten gescheitert. Nunmehr ruft das BVL das Bundesverfassungsgericht an und versucht im Wege einer Verfassungsbeschwerde mehr Mitspracherecht bei der gegenseitigen Anerkennung von Pflanzenschutzmitteln zu erlangen.
Wie funktioniert das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung von Pflanzenschutzmittelzulassungen?
Für das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung von Pflanzenschutzmittelzulassungen nach der EU-Pflanzenschutzmittelverordnung werden die EU-Mitgliedstaaten in Referenzzonen aufgeteilt. Die Mitgliedstaaten, in denen annähernd vergleichbare ökologische und landwirtschaftliche Bedingungen herrschen, werden einer Referenzzone zugeordnet. Deutschland bildet u. a. mit Polen, den Niederlanden und Österreich (sog. Referenzstaaten) eine Referenzzone. Wurde der Wirkstoff eines Pflanzenschutzmittels von der EU-Kommission genehmigt und das Mittel in einem Referenzstaat zugelassen, müssen die anderen Referenzstaaten aus der jeweiligen Referenzzone die Zulassung des Pflanzenschutzmittels grundsätzlich anerkennen.
Die Schutzstandards und Zulassungsbedingungen unterscheiden sich jedoch von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. In Deutschland gelten vergleichsweise strengere Anforderungen, weshalb Hersteller von Pflanzenschutzmitteln Deutschland immer seltener als Referenzmitgliedstaat auswählten. Wurde das Pflanzenschutzmittel im Referenzstaat zugelassen, beschränkt sich der Ermessensspielraum Deutschlands bei dem Verfahren der gegenseitigen Anerkennung zunächst auf die Möglichkeiten gemäß Art. 41 Abs. 1 EU-Pflanzenschutzmittelverordnung, die Bedingungen in seinem Hoheitsgebiet zu berücksichtigen sowie gem. Art. 41 Abs. 1 Halbsatz 2 i. V. m. Art. 36 Abs. 3 EU-Pflanzenschutzmittelverordnung, Maßnahmen zur Minderung der Risiken für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder für die Umwelt festzulegen bzw. die Zulassung zu verweigern.
Aktuelle Gerichtsentscheidungen zur gegenseitigen Anerkennung von Zulassungen
Schon mehrmals lehnte das für Pflanzenschutzmittelzulassungen zuständige BVL mit Sitz in Braunschweig Zulassungsanträge von Herstellern ab, weil die Umweltrisiken der jeweiligen Pflanzenschutzmittel aus ihrer Sicht zu hoch waren. Das Verwaltungsgericht Braunschweig (VG) betonte demgegenüber mehrfach, dass die deutschen Behörden an die Zulassungsbedingungen und die Bewertungen des jeweiligen Referenzstaates gebunden seien und ihnen keine weitergehenden Prüfungsbefugnisse zustünden und verpflichtete das BVL zur Erteilung der Zulassungen.
Jüngst bestätigte das VG Braunschweig mit Urteil vom 28.10.2022 (Az. 1 A 125/21) die eingeschränkte Prüfpflicht des BVL bei Zulassungsentscheidungen im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung.
So begehrte eine Herstellerin von Pflanzenschutzmitteln die Erteilung der Zulassung eines Pflanzenschutzmittels in Deutschland im Verfahren der gegenseitigen Anerkennung. Zuvor hatte Polen als Referenzmitgliedstaat die Zulassung für das Mittel erteilt. Das BVL versagte die Zulassung jedoch insbesondere, weil für die in dem Mittel enthaltene Wirkstoffvariante nach der maßgeblichen Durchführungsverordnung keine Wirkstoffgenehmigung bestanden habe.
Das VG Braunschweig urteilte daraufhin, dass der Prüfungsspielraum des mit einem Antrag auf gegenseitige Anerkennung befassten Mitgliedstaats sehr begrenzt sei. Eine über das Vorliegen von Gründen nach Art. 36 der EU-Pflanzenschutzmittelverordnung hinausgehende materielle Prüfungskompetenz komme ihm nicht zu. Insbesondere sei er weder berechtigt noch verpflichtet, die Referenzzulassung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Dies ergebe sich vor allem aus dem - dem Verfahren der gegenseitigen Anerkennung zugrundeliegenden - Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, sowie der Gewährleistung des freien Warenverkehrs innerhalb der Gemeinschaft. Zur Vermeidung von Doppelarbeit, Verringerung des Verwaltungsaufwands für Industrie und Mitgliedstaaten und zur Sicherstellung einer einheitlicheren Verfügbarkeit von Pflanzenschutzmitteln solle die von einem Mitgliedstaat erteilte Zulassung von anderen Mitgliedstaaten akzeptiert werden.
Auch der nachfolgende Beschluss des OVG Lüneburg (Az. 10 LA 116/22) stützte sich maßgeblich darauf, dass eine Rechtmäßigkeitskontrolle der von einem Mitgliedstaat erteilten Referenzzulassung durch den anerkennenden Mitgliedstaat nicht erfolgen dürfe. Zwar setze Art. 29 der EU-Pflanzenschutzmittelverordnung voraus, dass der zum Einsatz kommende Wirkstoff genehmigt sei, was im maßgeblichen Zeitpunkt nicht der Fall war. Daraus ergebe sich jedoch keine Prüfungskompetenz eines mit der Anerkennung beauftragten Mitgliedstaats, die Voraussetzungen der Zulassung zum Inverkehrbringen, die bereits von dem anderen Referenzmitgliedstaat geprüft und bejaht worden sei, (nochmals) zu prüfen. Jedenfalls solange sich nicht aufdränge, dass ein Referenzmitgliedstaat Vorschriften des Zulassungsverfahrens systematisch verletze, bestehe im Anerkennungsverfahren kein Raum für eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Referenzzulassung.
Verfassungsbeschwerde des BVL
Es scheint, als möchte das BVL diese vom VG Braunschweig und OVG Lüneburg postulierte eingeschränkte Prüfpflicht nicht länger hinnehmen; die Bundesrepublik Deutschland reichte als Vertreterin der Behörde und Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein, mit der sie die Verletzung ihres Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 GG geltend macht. Es ist das erste Mal, dass die Bundesrepublik im Wege der Verfassungsbeschwerde vor ihr eigenes Verfassungsgericht zieht und damit eine juristische Premiere.
Das BVL begehrt, dass das BVerfG die vorherige Entscheidung des OVG aufhebt und feststellt, dass der EuGH in einem neuen Durchgang angerufen werden müsse. Ihrer Ansicht nach hätte das OVG zur Klärung der strittigen Rechtsfragen ein Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV einleiten müssen. Dort müsste dann geklärt werden, wie weit die nationalen Prüfungsbefugnisse im Rahmen von Verfahren der gegenseitigen Anerkennung reichen und ob die nationalen Behörden im Einzelfall nicht doch von den Bewertungen des Referenzmitgliedstaats abweichen dürfen.
Ähnlich gelagerter Fall bereits vor dem EuGH anhängig
Bereits in einem ähnlich gelagerten Fall hatte sich ein niederländisches Gericht an den EuGH gewandt. Die zuständige Generalanwältin hob hierbei in ihren Schlussanträgen das Vorsorgeprinzip, auf dem die EU-Pflanzenschutzverordnung beruhe, hervor; der federführende Mitgliedstaat müsse "alle einschlägigen und zuverlässigen aktuellen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse berücksichtigen", so die Generalanwältin. Unterlässt er dies und übersieht er Gefahren für die Umwelt, darf ein anderer Mitgliedstaat die Zulassung verweigern.
Folgt der EuGH der Einschätzung der Generalanwältin, wäre dies ganz i. S. d. BVL und des als wissenschaftlichen Bewertungsbehörde beteiligten Umweltbundesamts, des Bundesinstituts für Risikobewertung sowie des Julius Kühn-Instituts. Hersteller von Pflanzenschutzmitteln hingegen könnten sich nicht mehr auf die Zulassungen eines Referenz-Mitgliedstaats und damit die gegenseitige Anerkennung der Pflanzenschutzmittelzulassungen verlassen.
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