Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen
§ 233a AO regelt die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen. Diese sog. Vollverzinsung betrifft den Zeitraum zwischen der Steuerentstehung und ihrer Festsetzung. Der Zinslauf beginnt dabei nicht bereits mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern erst nach einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten. Von dieser Vollverzinsung sind nur diejenigen Steuerpflichtigen betroffen, deren Steuer erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums nach der Entstehung des Steueranspruchs erstmalig festgesetzt oder geändert wird. Von besonderer praktischer Bedeutung ist diese Regelung insbesondere bei geänderten Steuerfestsetzungen nach einer Außenprüfung. Die Zinsen betragen für jeden vollen Monat des Zinslaufs 0,5 % und damit 6 % jährlich. Von der Verzinsung erfasst werden derzeit die Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer. Die Vollverzinsung wirkt bei einer Steuererstattung zugunsten der Steuerpflichten sowie bei einer Steuernachforderung zuungunsten der Steuerpflichtigen. Auf die Gründe für eine späte Steuerfestsetzung und insbesondere, ob die Steuerpflichtigen oder die Behörde hieran ein Verschulden trifft, kommt es für die Verzinsung nicht an.
Ziel der Vollverzinsung legitim
Das BVerfG kommt in seinem Beschluss vom 08.07.2021 zu dem Ergebnis, dass die Vollverzinsung ursprünglich verfassungsgemäß war. Das Ziel der Vollverzinsung, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden, sei legitim, da Steuerschuldner, deren Steuer erst spät festgesetzt wird, einen fiktiven Zinsvorteil haben. Dieser Zinsvorteil soll mit der Vollverzinsung abgeschöpft werden. Die Vollverzinsung sei auch geeignet, die Erreichung dieses Ziels zu fördern. Dies gelte grundsätzlich auch unter Berücksichtigung der Höhe des Zinssatzes, da jedenfalls bis in das Jahr 2014 noch regelmäßig Habenzinsen erzielt werden konnten.
Derzeitige Vollverzinsung ab 2014 verfassungswidrig
Das BVerfG kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 % nach Ablauf einer zinsfreien Karenzzeit von grundsätzlich 15 Monaten eine Ungleichbehandlung von Steuerschuldnern darstellt, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit festgesetzt wird, gegenüber Steuerschuldnern, deren Steuer bereits innerhalb der Karenzzeit endgültig festgesetzt wird. Diese Ungleichbehandlung erweise sich gemessen am allgemeinen Gleichheitssatz für in die Jahre 2010 bis 2013 fallende Verzinsungszeiträume noch als verfassungsgemäß. Für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume hält das BVerfG diese Ungleichbehandlung dagegen für verfassungswidrig. Diese Ungleichheit könne durch eine Vollverzinsung mit einem niedrigeren Zinssatz behoben werden.
Hinweis: Die Verfassungswidrigkeit der Verzinsung nach § 233a AO umfasst dabei sowohl die Nachzahlungszinsen zu Lasten wie auch die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen.
Gesetzgeberische Motive zur Höhe des Zinssatzes auslegungsbedürftig
Der Gesetzgeber habe seinerzeit die Höhe des gewählten Zinses nicht ausdrücklich begründet, weswegen eine Gesamtschau der erkennbaren Motive und Erwägungen erforderlich ist, um die leitenden Kriterien bei der Bemessung des Zinssatzes zu bestimmen. Grundsätzlich gelte es, einen potentiell entstehenden Zinsvorteil abzuschöpfen.
Zur Bestimmung dieses Zinsvorteils mit monatlich 0,5 % knüpfte der Gesetzgeber im Jahr 1990 an den damals geltenden § 238 AO an. Dies begründete er allein mit der Praktikabilität des vorgefundenen festen Zinssatzes. Erkennbar waren aber auch Bezüge zum damaligen Diskontsatz, der durch den heutigen Basiszinssatz abgelöst wurde. Offenbar hatte der Gesetzgeber weiterhin den Marktzins und einen Gleichlauf der Höhe von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen im Blick.
Die Vollverzinsung zulasten der Steuerpflichtigen mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 % war danach zunächst verfassungsgemäß. Der Zinssatz entsprach bei seiner gesetzlichen Festschreibung mit jährlichen Zinsen von 6 % in etwa den insoweit maßstabsrelevanten Verhältnissen am Geld- und Kapitalmarkt.
Anpassung an veränderte Marktgegebenheiten
Die Verzinsung mit einem Zinssatz von monatlich 0,5 % sei aber dann nicht mehr zu rechtfertigen, wenn sich der typisiert festgelegte Zinssatz im Laufe der Zeit unter veränderten tatsächlichen Bedingungen als evident realitätsfern erweist. Dies ist laut BVerfG spätestens seit dem Jahr 2014 der Fall.
Nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 habe sich ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelt, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen ist. Dies zeigte sich zunächst in der Entwicklung des Basiszinssatzes. Während er im Jahr 2008 noch bei über 3 % lag, sank er im Laufe des Jahres 2009 rapide auf 0,12 %. Seit Januar 2013 liegt er im negativen Bereich. Vor dem Hintergrund, dass sich der Diskontsatz in den fünfzig Jahren seines Bestehens zwischen 2,5 % und 8,75 % und der Basiszinssatz sich vor 2009 zwischen 1,13 % und 3,32 % bewegt hat, zeigt diese Entwicklung ein Niedrigzinsniveau auf, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen, sondern spätestens seit dem Jahr 2014 struktureller und nachhaltiger Natur ist. Einen entsprechenden Trend zeige auch die Entwicklung der Zinsen am Kapitalmarkt.
Mit ihrer Anknüpfung an einem jährlichen Zinssatz von 6 % entfaltet die Vollverzinsung damit laut BVerfG spätestens für in das Jahr 2014 fallende Verzinsungszeiträume im Regelfall eine überschießende Wirkung, die als verfassungswidrig einzustufen ist.
Fazit
Das BVerfG erklärt im Ergebnis § 233a i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO für alle Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 als mit dem Grundgesetz unvereinbar - und zwar sowohl für die Nachzahlungszinsen zulasten der Steuerpflichtigen als auch für die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerpflichtigen.
Für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 gilt die Vorschrift jedoch fort. Hier ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen. Für ab in das Jahr 2019 fallende Verzinsungszeiträume bleibt es hingegen bei der Unanwendbarkeit der Vorschrift. Das BVerfG verpflichtet damit den Gesetzgeber, bis 31.07.2022 eine Neuregelung zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2019 erstreckt und alle noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheide erfasst.
Reaktion des BMF
Das BMF geht mit Schreiben vom 17.09.2021 (Az. IV A 3 - S 0338/19/10004 :005) auf Entscheidung des BVerfG ein und führt aus, dass im Falle von erstmaligen Festsetzungen von Nachzahlungs- und Erstattungszinsen die Verzinsung für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2019 auszusetzen ist. Sobald eine rückwirkende Neuregelung durch den Gesetzgeber vorliegt, ist die ausgesetzte Verzinsung nachzuholen. Für Verzinsungszeiträume bis 31.12.2018 anfallende Nachzahlungs- oder Erstattungszinsen werden hingegen endgültig festgesetzt. In betroffenen Zinsbescheiden werden hierzu entsprechende Erläuterungen aufgenommen.
Bei geänderten oder berichtigten Zinsfestsetzungen ist die geänderte oder berichtigte Zinsfestsetzung für Verzinsungszeiträume ab 01.01.2019 im Umfang der betragsmäßig neu festzusetzenden Zinsen auszusetzen.
Hinweis: Wie schon der Entscheidung des BVerfG zu entnehmen war, weist auch das BMF explizit darauf hin, dass hiervon Stundungszinsen, Zinsen bei hinterzogenen Steuern, Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge und Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung nicht erfasst werden. Die Finanzverwaltung wird in diesen Fällen angewiesen, bislang vorläufig ergangene Zinsfestsetzungen für endgültig zu erklären. Wegen Zweifel an der Verfassungskonformität des Zinssatzes von 6 % p. a. in diesen Fällen könnte Einspruch gegen die Zinsfestsetzungen eingelegt werden. Allerdings sind derzeit keine anhängigen Verfahren beim BFH oder BVerfG bekannt, auf die Bezug genommen werden könnte, um ein Ruhen des Einspruchsverfahrens zu erzielen.