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Vorsorgevollmacht: gerichtliche Genehmigung bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen

BVerfG 10.6.2015, 2 BvR 1967/12

Das Er­for­der­nis ei­ner ge­richt­li­chen Ge­neh­mi­gung für die Ein­wil­li­gung des Vor­sor­ge­be­vollmäch­tig­ten in ärzt­li­che Si­che­rungs- und Zwangsmaßnah­men wie z. B. Fi­xie­run­gen ist mit dem GG ver­ein­bar. Im Rah­men der Er­tei­lung ei­ner Vor­sor­ge­voll­macht kann nicht wirk­sam auf das Er­for­der­nis der ge­richt­li­chen Ge­neh­mi­gung ver­zich­tet wer­den; der da­mit ver­bun­dene Ein­griff in das Selbst­be­stim­mungs­recht der Be­trof­fe­nen ist auf­grund des staat­li­chen Schutz­auf­trags ge­recht­fer­tigt.

Der Sach­ver­halt:
Die in einem Se­nio­ren­pfle­ge­heim un­ter­ge­brachte Be­schwer­deführe­rin er­teilte im Jahr 2000 eine no­ta­ri­elle Ge­ne­ral- und Vor­sor­ge­voll­macht an ih­ren Sohn, der eben­falls Be­schwer­deführer ist. Im Som­mer 2012 er­reichte sie die Pfle­ge­stufe III. Nach­dem die Be­schwer­deführe­rin mehr­fach aus einem Stuhl oder ih­rem Bett auf den Bo­den ge­fal­len war und sich da­bei Ver­let­zun­gen zu­ge­zo­gen hatte, wil­ligte ihr Sohn ein, Git­ter an ih­rem Bett zu be­fes­ti­gen und sie tagsüber mit einem Be­cken­gurt im Roll­stuhl zu fi­xie­ren.

Das AG ge­neh­migte die Ein­wil­li­gung des Be­schwer­deführers. Die hier­ge­gen ge­rich­tete Be­schwerde blieb vor dem LG und dem BGH ohne Er­folg. Das BVerfG nahm die Ver­fas­sungs­be­schwerde, die sich auf eine For­mu­lie­rung in der Voll­macht stützt, nach der Ent­schei­dun­gen "ohne Ein­schal­tung des Vor­mund­schafts­ge­richts" ge­trof­fen wer­den sol­len, nicht zur Ent­schei­dung an.

Die Gründe:
Durch die fach­ge­richt­li­chen Ent­schei­dun­gen, die die Ge­neh­mi­gung der Ein­wil­li­gung in die frei­heits­be­schränken­den Maßnah­men aus­spre­chen, wer­den die bei­den Be­schwer­deführer nicht in ih­ren Grund­rech­ten ver­letzt.

Die in § 1906 Abs. 5 BGB fest­ge­schrie­bene Ver­pflich­tung, vor zusätz­li­chen Frei­heits­be­schränkun­gen trotz Ein­wil­li­gung der Vor­sor­ge­be­vollmäch­tig­ten eine ge­richt­li­che Ge­neh­mi­gung der Ein­wil­li­gung ein­zu­ho­len, greift zwar in das Selbst­be­stim­mungs­recht der Be­schwer­deführe­rin aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Das Recht auf Selbst­be­stim­mung wird je­doch nicht un­ein­ge­schränkt, son­dern nur im Rah­men der ver­fas­sungsmäßigen Ord­nung gewähr­leis­tet. Be­stand­teil die­ser ver­fas­sungsmäßigen Ord­nung ist jede Rechts­norm, die for­mell und ma­te­ri­ell der Ver­fas­sung gemäß ist. Diese Vor­aus­set­zung erfüllt die an­ge­grif­fene Vor­schrift des § 1906 Abs. 5 BGB. Der Staat ist durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 und S. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ver­pflich­tet, sich dort schützend und fördernd vor das Le­ben, die körper­li­che Un­ver­sehrt­heit, die Frei­heit und die se­xu­elle Selbst­be­stim­mung des Ein­zel­nen zu stel­len und sie vor Ein­grif­fen von Sei­ten Drit­ter zu be­wah­ren, wo die Grund­rechts­be­rech­tig­ten selbst nicht (mehr) dazu in der Lage sind.

Es kommt in­so­weit auf den tatsäch­li­chen, natürli­chen Wil­len, nicht auf den Wil­len ei­nes ge­setz­li­chen Ver­tre­ters an; feh­lende Ein­sichts- und Ge­schäftsfähig­keit lässt den Schutz nicht von vorn­her­ein ent­fal­len. Viel­mehr kann sich für Be­trof­fene, de­nen die Not­wen­dig­keit der Frei­heits­be­schränkung nicht mehr näher ge­bracht wer­den kann, die durch Dritte vor­ge­nom­mene Be­schränkung als be­son­ders be­droh­lich dar­stel­len. Dies wird in der kon­kre­ten Si­tua­tion der Frei­heits­be­schränkung nicht da­durch ge­min­dert, dass die Be­trof­fe­nen im zeit­li­chen Vor­feld zu einem Zeit­punkt um­fas­sen­der Ver­nunft und Ge­schäftsfähig­keit vor­greif­lich in der­ar­tige Be­schränkun­gen ein­ge­wil­ligt oder erklärt ha­ben, die Ent­schei­dung über sol­che Be­schränkun­gen in die al­lei­nige Ver­ant­wor­tung be­stimm­ter Ver­trau­ens­per­so­nen le­gen zu wol­len.

Im Hin­blick dar­auf, dass für die grund­recht­li­che Be­ur­tei­lung der Schwere des Ein­griffs auch das sub­jek­tive Emp­fin­den von Be­deu­tung ist, macht es in die­sem kon­kre­ten Fall für die Grund­recht­sträge­rin kei­nen Un­ter­schied, ob ihr Fi­xie­run­gen zur Be­schränkung ih­rer Be­we­gungs­frei­heit auf­grund Ver­an­las­sung durch einen staat­lich be­stell­ten Be­treuer oder den Vor­sor­ge­be­vollmäch­tig­ten an­ge­legt wer­den sol­len. Es ent­spricht da­her der Wahr­neh­mung staat­li­cher Schutz­pflich­ten, wenn der Ge­setz­ge­ber in § 1906 Abs. 5 BGB die Ein­wil­li­gung des Be­vollmäch­tig­ten in der­ar­tige Frei­heits­be­schränkun­gen un­ter ein ge­richt­li­ches Ge­neh­mi­gungs­er­for­der­nis stellt.  Der zu­gleich hierin lie­gende Ein­griff in das Selbst­be­stim­mungs­recht der Be­trof­fe­nen aus Art. 2 Abs. 1 GG ist im Hin­blick auf die­sen Schutz verhält­nismäßig. Das Ar­gu­ment des Be­schwer­deführers, die Neu­fas­sung des § 1904 Abs. 4 BGB für den Be­reich ärzt­li­cher Maßnah­men ge­biete, erst recht bei dem we­ni­ger schwe­ren Ein­griff nach § 1906 Abs. 5 BGB auf das ge­richt­li­che Ge­neh­mi­gungs­er­for­der­nis zu ver­zich­ten, ver­kennt den un­ter­schied­li­chen An­wen­dungs­be­reich die­ser Vor­schrif­ten.

Die nach § 1904 BGB vor­zu­neh­men­den Maßnah­men sol­len dem Wil­len der Pa­ti­en­ten ent­spre­chen; erst so­weit über des­sen In­halt keine Ei­nig­keit er­zielt wer­den kann, ist das Ge­richt ein­zu­schal­ten. Dem­ge­genüber soll im Rah­men von § 1906 BGB der je­den­falls noch vor­han­dene natürli­che Wille der Be­trof­fe­nen über­wun­den wer­den. Vor die­sem Hin­ter­grund ist die un­ter­schied­li­che Hand­ha­bung der Er­for­der­lich­keit des ge­richt­li­chen Ge­neh­mi­gungs­er­for­der­nis­ses ge­recht­fer­tigt. So­weit die Ver­fas­sungs­be­schwerde auf die Möglich­keit ab­stellt, einen Kon­troll­be­treuer zu be­stel­len, ver­kennt sie, dass dies nur einen nachträgli­chen Schutz gewähren würde. Die ge­gen den natürli­chen Wil­len der Be­trof­fe­nen vor­zu­neh­mende Frei­heits­be­schränkung wäre kei­ner vor­greif­li­chen Kon­trolle un­ter­wor­fen, und bei einem im Nach­hin­ein fest­ge­stell­ten Voll­machts­miss­brauch könn­ten die durch­geführ­ten Maßnah­men nicht mehr rückgängig ge­macht wer­den.

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