Bezieht ein Unternehmer Leistungen für sein Unternehmen, um damit selbst umsatzsteuerpflichtige Leistungen zu erbringen, wird die Berechtigung zum Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG allein vom Leistungsbezug und dem Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechnung abhängig gemacht. Die Steuerentstehung beim Leistenden ist nach dieser Lesart unerheblich. Im Streitfall hatte ein Vermieter seiner Mieterin, einer Grundstücksgemeinschaft, die Miete mehrere Jahre gestundet. Beide Parteien hatten zur Umsatzsteuer optiert und versteuerten ihre Umsätze nach vereinnahmten Entgelten gemäß § 20 UStG (sog. Ist-Versteuerung). Die Grundstücksgemeinschaft hatte den Vorsteuerabzug aus den Mietzahlungen jeweils erst in den Voranmeldungszeiträumen geltend gemacht, in welchen die Mietzahlungen tatsächlich erfolgten. Das war aus Sicht des Finanzamts zu spät, da der Vorsteuerabzug bereits bei Leistungsausführung, d. h. bei der monatsweisen Grundstücksüberlassung, entstanden sei; aufgrund der teilweise bereits eingetretenen Festsetzungsverjährung wäre die finale Versagung des Vorsteuerabzugs die Folge gewesen.
Das FG Hamburg hatte Zweifel, ob diese Handhabung mit Art. 167 MwStSystRL vereinbar ist, und ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung (Vorlage des FG Hamburg vom 10.12.2019, Az. 1 K 337/17, DStR 2020, S. 226, s. dazu auch novus März 2020, S. 14).
Der EuGH stellt mit Urteil vom 10.02.2022 (Rs. C-9/20, Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136, DStR 2022, S. 255) klar, dass gemäß Art. 167 MwStSystRL das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn die korrespondierende Umsatzsteuer entsteht- und damit der Vorsteuerabzug klar und unzweideutig vom Leistungszeitpunkt entkoppelt sei. Damit stünden die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der MwStSystRL einer nationalen Regelung, nach der das Vorsteuerabzugsrecht bereits im Zeitpunkt der Leistungserbringung entsteht, ungeachtet des Umstandes, dass beim Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Steuer aufgrund einer nationalen Regelung zur sog. Ist-Versteuerung erst zu einem späteren Zeitpunkt entsteht, entgegen. Die davon abweichende Lesart des § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG widerspricht demnach Art. 167 MwStSystRL.
Die konkrete Umsetzung der neuen EuGH-Entscheidung bleibt nun abzuwarten, birgt sie doch praktische Herausforderungen: Denn der Leistungsempfänger kennt zwar den Zahlungszeitpunkt, in der Regel aber nicht die Besteuerungsform des leistenden Unternehmers.
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