Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist die Rechtsnachfolgerin ihres im April 2017 verstorbenen Ehemannes (M), der in Deutschland lebte. Dieser war Miterbe seiner im April 2009 verstorbenen Schwester (E), die Schweizer Staatsangehörige war und in der Schweiz wohnte. Zum Nachlass gehörten u.a. zwei in der Schweiz gelegene Grundstücke. Im September 2009 hatte die zuständige schweizerische Finanzbehörde gegenüber M - ausgehend von einem Vermögensanfall i.H.v. 119.400 CHF - Erbschaftsteuer i.H.v. 6.444 CHF festgesetzt. Bei der Ermittlung des Vermögensanfalls wurden die Grundstücke mit ihrem amtlichen Wert von 830.300 CHF anteilig berücksichtig.
Im März 2011 reichte M dann in Deutschland eine Erbschaftsteuererklärung ein. Das Finanzamt setzte daraufhin Erbschaftsteuer i.H.v. 60.414 € fest. Dabei ging es von einem Wert des Erwerbs i.H.v. 235.651 € aus, wobei das in der Schweiz gelegene Grundvermögen mit einem Wert von 211.836 € in die Bemessungsgrundlage einbezogen wurde. Die in der Schweiz gezahlte Erbschaftsteuer i.H.v. 4.266 € rechnete die Behörde nach § 21 ErbStG an. Gegen den Bescheid wurde kein Einspruch eingelegt.
Im September 2011 beantragte M eine Herabsetzung der festgesetzten Steuer auf 1.140 €. Er stützte seinen Antrag auf § 174 Abs. 1 AO und machte geltend, nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a DBA-Schweiz stelle Deutschland in der Schweiz gelegenes Grundvermögen von der Steuer frei, wenn der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes schweizerischer Staatsangehöriger gewesen sei. Das Finanzamt lehnte die begehrte Änderung mit der Begründung ab, es fehle an einer verfahrensrechtlichen Änderungsvorschrift. Der Bescheid aus März 2011 sei bestandskräftig geworden und die Voraussetzungen des § 174 Abs. 1 Satz 1 AO lägen nicht vor.
Das FG gab der hiergegen eingelegten Klage statt und setzte die Steuer antragsgemäß herab. Auf die Revision des Finanzamtes hob der BFH das Urteil auf und wies die Klage ab.
Gründe:
Entgegen der Auffassung des FG kann der Erbschaftsteuerbescheid aus März 2011 nicht nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO zugunsten der Klägerin geändert werden.
Der Begriff des "bestimmten Sachverhalts" i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 1 AO knüpft an einen einheitlichen Lebensvorgang an, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Eine widerstreitende Steuerfestsetzung liegt nur vor, wenn derselbe Lebensvorgang in verschiedenen Steuerbescheiden unterschiedlich berücksichtigt worden ist. Die Anwendung des § 174 Abs. 1 Satz 1 AO erfordert das Vorliegen von (positiv) widerstreitenden Steuerfestsetzungen zu Lasten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger. Ein "Widerstreiten" i.d.S. setzt voraus, dass die in den (kollidierenden) Bescheiden getroffenen Regelungen (Steuerfestsetzungen oder Feststellungen) aufgrund der materiellen Rechtslage nicht miteinander vereinbar und daher widersprüchlich sind, weil nur eine der festgesetzten oder angeordneten Rechtsfolgen zutreffen kann. Die in der mehrfachen Erfassung eines bestimmten Sachverhalts liegenden Unrichtigkeiten müssen einander nach materiellem Recht zwingend (denknotwendig) ausschließen.
Die "Berücksichtigung" eines bestimmten Sachverhalts i.S.v. § 174 Abs. 1 Satz 1 AO setzt voraus, dass er dem Finanzamt bei der Entscheidungsfindung bekannt war und als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet worden ist. Dabei kann es dahingestellt bleiben kann, ob "Steuerbescheid" i.S.d. § 174 Abs. 1 AO auch eine Maßnahme einer Steuerbehörde eines Drittstaates sein kann. Denn ein Widerstreit i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 1 AO lag im Streitfall nicht vor. Die schweizerische Finanzbehörde konnte zwar den Grundstückserwerb von Todes wegen besteuern und dafür den Wert der Grundstücke als Bemessungsgrundlage heranziehen. Zugleich war der Erwerb der Grundstücke auf der Grundlage des DBA-Schweiz i.V.m. § 19 Abs. 2 ErbStG bei der Festsetzung der Steuer für den übrigen in Deutschland steuerbaren Nachlass im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Damit war die mehrfache Erfassung des Sachverhalts nicht ausgeschlossen.
Aufgrund des inländischen Progressionsvorbehalts wäre eine doppelte Berücksichtigung des Werts der Grundstücke - in der Schweiz im Rahmen der Bemessungsgrundlage für die Steuer und in Deutschland im Rahmen des Progressionsvorbehalts - möglich gewesen. Ein Widerstreit i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 1 AO scheidet daher aufgrund der mehrfachen Berücksichtigungsmöglichkeit aus. Die DBA-Vorschriften, die einen parallelen Zugriff beider Vertragsstaaten auf das gleiche Steuersubstrat verhindern, sind Bestandteil der materiellen Rechtslage, aufgrund derer der "Widerstreit" zu beurteilen ist. Der Progressionsvorbehalt gehört zur abkommensrechtlichen Verteilung der Besteuerungskompetenzen und darf deshalb bei der Prüfung des Widerstreits nicht außer Acht gelassen werden.
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