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Rechtsberatung

Wirksame Kündigung auch bei fehlender oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige?

Kommt es in Un­ter­neh­men zur Ent­las­sung ei­ner be­stimm­ten An­zahl von Ar­beit­neh­mern, ist dies der zuständi­gen Agen­tur für Ar­beit mit ei­ner Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige an­zu­zei­gen. Doch wann ist eine sol­che Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige er­for­der­lich und vor al­lem: Wel­che Kon­se­quen­zen dro­hen, wenn sie un­ter­bleibt oder feh­ler­haft ab­ge­ge­ben wird? Diese Fra­gen sind auf­grund ak­tu­el­ler EuGH- und na­tio­na­ler höchstrich­ter­li­cher Recht­spre­chung der­zeit im Wan­del. Die gute Nach­richt vor­weg: Die strenge Folge der Un­wirk­sam­keit sämt­li­cher aus­ge­spro­che­ner Kündi­gun­gen we­gen ei­nes „Form­man­gels“ könnte in Zu­kunft zu­min­dest in be­stimm­ten Fällen ge­heilt wer­den.

Bei wirt­schaft­li­chen Kri­sen oder struk­tu­rel­len Verände­run­gen in Un­ter­neh­men kommt es häufig zu einem nicht un­er­heb­li­chen Per­so­nal­ab­bau. In die­sem Fall ist der Ar­beit­ge­ber zur Ab­gabe ei­ner sog. Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige bei der zuständi­gen Agen­tur für Ar­beit ver­pflich­tet. Das Un­ter­neh­men muss kon­kret Name, Art und Sitz des Ar­beit­ge­bers, Gründe für die ge­plan­ten Ent­las­sun­gen, Da­ten der be­trof­fe­nen Ar­beit­neh­mer so­wie die Kri­te­rien für de­ren Aus­wahl an­ge­ben. Eine sol­che An­zeige ist im­mer dann er­for­der­lich, wenn der Ar­beit­ge­ber be­ab­sich­tigt, in­ner­halb von 30 Ka­len­der­ta­gen eine ge­setz­lich fest­ge­legte Zahl an Ar­beit­neh­mern zu ent­las­sen, § 17 Abs. 1 KSchG. Zu sol­chen Ent­las­sun­gen gehören ne­ben Kündi­gun­gen jeg­li­cher Art auch ar­beit­ge­ber­sei­tig ver­an­lasste Auf­he­bungs­verträge. Die Schwelle zur ver­pflich­ten­den Mas­sen­ent­las­sung va­ri­iert da­bei je nach der Größe des Be­trie­bes. So­weit ein Be­triebs­rat vor­han­den ist, ist zu­dem mit die­sem vorab zwin­gend das sog. Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren durch­zuführen.

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Konsequenzen einer fehlenden oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige

Un­ter­bleibt eine er­for­der­li­che Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige oder wird sie feh­ler­haft er­stellt, le­gen we­der Ge­setz noch Uni­ons­recht eine zwin­gende Rechts­folge fest. Aber nach ständi­ger BAG-Recht­spre­chung galt bis­her: Die feh­lende oder feh­ler­hafte Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige führt we­gen Ver­stoßes ge­gen ein ge­setz­li­ches Ver­bot zur Un­wirk­sam­keit al­ler aus­ge­spro­che­nen Kündi­gun­gen, § 134 BGB, - und zwar un­abhängig da­von, ob tatsäch­lich in­di­vi­du­elle Kündi­gungsgründe vor­lie­gen. Auch eine nachträgli­che Hei­lung et­wai­ger Mängel der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige war bis­lang nicht möglich.

Das Un­ter­las­sen bzw. Feh­ler bei der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige führ­ten da­her zu er­heb­li­chen recht­li­chen und fi­nan­zi­el­len Kon­se­quen­zen für die kündi­gen­den Ar­beit­ge­ber.

Rechtsprechungswandel

Diese fol­gen­schwere Rechts­folge be­fin­det sich der­zeit im Wan­del. So ent­schied der EuGH am 13.07.2023 (Rs. C-134-22) auf eine An­frage des VI. Se­nats des BAG (Be­schluss vom 27.01.2022, Az. 6 AZR 155/21), dass die Pflicht zur Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige an die zuständige Agen­tur für Ar­beit nicht dem In­di­vi­du­al­schutz des gekündig­ten Ar­beit­neh­mers dient. Viel­mehr solle hier­durch in ers­ter Li­nie er­reicht wer­den, dass die zuständige Agen­tur für Ar­beit frühzei­tig in­vol­viert wird und ihre Auf­gabe der Ver­mitt­lung ent­las­se­ner Ar­beit­neh­mer erfüllen kann.

In­fol­ge­des­sen be­ab­sich­tigt der VI. Se­nat des BAG nun­mehr eine Recht­spre­chungsände­rung, wo­nach selbst das vollständige Feh­len ei­ner Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige nicht zur Un­wirk­sam­keit der Kündi­gun­gen führt. Denn diese scharfe Sank­tion der Un­wirk­sam­keit al­ler Kündi­gun­gen sei uni­ons­recht­lich nicht ge­bo­ten.

Divergenzanfrage des VI. Senats an den II. Senat des BAG

Da diese Recht­spre­chungsände­rung auch von der Recht­spre­chung des II. Se­nats des BAG ab­wei­chen würde, stellte der VI. Se­nat an die­sen eine sog. Di­ver­genz­an­frage, um zu klären, ob die­ser an sei­ner bis­he­ri­gen Recht­spre­chung fest­hal­ten möchte.

Der II. Se­nat stimmt der neuen Rechts­auf­fas­sung des VI. Se­nats nicht un­ein­ge­schränkt zu. Aus sei­ner Sicht ist es mit Uni­ons­recht nicht ver­ein­bar, dass Feh­ler bei der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige kei­ner­lei recht­li­chen Ein­fluss auf die Be­en­di­gung der gekündig­ten Ar­beits­verhält­nisse ha­ben sol­len. Nach An­sicht des II. Se­nats müss­ten aus­ge­spro­chene Kündi­gun­gen zwar nicht „un­rett­bar“ nich­tig sein, son­dern könn­ten durch Nach­ho­lung ei­ner ord­nungs­gemäßen An­zeige bei der Agen­tur für Ar­beit ge­heilt wer­den. Es sei aber da­nach zu dif­fe­ren­zie­ren, ob gar keine oder „nur“ eine feh­ler­hafte An­zeige er­stat­tet wurde. Der II. Se­nat setzte das An­fra­ge­ver­fah­ren aus und rief selbst den EuGH an mit Bitte um Be­ant­wor­tung der da­mit in Zu­sam­men­hang ste­hen­den Fra­gen (Be­schluss vom 01.02.2024 - 2 AS 22/23). Die EuGH-Ent­schei­dung zu die­ser An­frage bleibt ab­zu­war­ten.

Ergänzend zu die­ser EuGH-An­frage bat der VI. Se­nat des BAG den EuGH ganz ak­tu­ell mit Be­schluss vom 23.05.2024 (Az. 6 AZR 152 / 22 (A)) noch­mals um Klärung, ob der Zweck der Mas­sen­ent­las­sungs­an­zeige erfüllt sei, wenn die Agen­tur für Ar­beit eine feh­ler­hafte An­zeige nicht be­an­stan­det und sich da­mit als aus­rei­chend in­for­miert be­trach­tet.

Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat muss nach wie vor eingehalten werden!

Die et­waige vor­ste­hend the­ma­ti­sierte Recht­spre­chungsände­rung würde sich ausdrück­lich nur auf die An­zeige bei der Agen­tur für Ar­beit be­zie­hen und nicht auf die ord­nungs­gemäße Durchführung des Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­rens, sollte es einen Be­triebs­rat ge­ben. Beide BAG-Se­nate sind sich ei­nig, dass bei Feh­lern im Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren nach wie vor alle aus­ge­spro­che­nen Kündi­gun­gen un­wirk­sam sind. Dies bestätigte ak­tu­ell auch der EuGH.

Hin­weis: Das Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren ist nicht mit den Ver­hand­lun­gen zu einem In­ter­es­sen­aus­gleich nach § 111 Be­trVG gleich­zu­set­zen, auch wenn beide Ver­fah­ren par­al­lel lau­fen können. Beim Kon­sul­ta­ti­ons­ver­fah­ren ist eine vor­he­rige schrift­li­che In­for­ma­tion des Be­triebs­rats zu den in § 17 Abs. 2 KSchG ge­nann­ten An­ga­ben er­for­der­lich.

EuGH zum Zeitpunkt der Konsultations- und Anzeigepflichten gegenüber Betriebsrat

Laut EuGH-Ur­teil vom 22.02.2024 (Rs. C-589/22) ist der Be­triebs­rat bei Mas­sen­ent­las­sun­gen zu dem Zeit­punkt zu kon­sul­tie­ren, ab dem der Ar­beit­ge­ber eine Ver­rin­ge­rung der Ar­beitsplätze be­reits ins Auge fasst oder plant, de­ren An­zahl die fest­ge­leg­ten Schwel­len­werte über­schrei­ten kann. Die Kon­sul­ta­ti­ons­pflicht ent­steht also nicht erst zum Zeit­punkt, in dem der Ar­beit­ge­ber die Ge­wiss­heit er­langt, dass er tatsäch­lich eine Ar­beit­neh­mer­zahl ent­las­sen muss, die diese Schwel­len­werte über­schrei­tet. Die Kon­sul­ta­ti­ons- und An­zei­ge­pflich­ten ent­ste­hen vor der Ar­beit­ge­ber­ent­schei­dung zur Kündi­gung von Ar­beits­verträgen.

Hin­weis: Die in § 17 KSchG fest­ge­schrie­be­nen „deut­schen“ Schwel­len­werte sind stren­ger als die EU-Vor­ga­ben. Das vor­erwähnte EuGH-Ur­teil dürfte aber auch auf deut­sches Recht an­wend­bar sein. Der Ar­beit­ge­ber muss den Be­triebs­rat frühzei­tig kon­sul­tie­ren - nach dem EuGH-Ur­teil so­mit, be­vor die fi­nale Ent­schei­dung über Mas­sen­ent­las­sun­gen ge­trof­fen wor­den ist.

 

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