Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist die Mutter eines im Jahr 1995 geborenen Sohnes (S). Sie ist deutsche Staatsangehörige und übt in Deutschland eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus. Das zuständige Finanzamt behandelte sie im Streitzeitraum gem. § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Der Ehemann der Klägerin und Kindsvater ist Belgier. Er arbeitete seit November 2006 bei einer belgischen Zeitarbeitsfirma, zuvor war er arbeitslos. Die Familie lebte zunächst in Deutschland, zog dann aber im Juni 2006 nach Belgien und hat seitdem dort ihren Wohnsitz. Für ihren Sohn bezog die Klägerin fortlaufend in Deutschland Kindergeld. Ihr Ehemann hatte in Belgien kein Kindergeld beantragt und deswegen auch kein Kindergeld erhalten.
Die Konkurrenz zwischen den Kindergeldansprüchen verschiedener Mitgliedstaaten werde durch die Art. 76 bis 79 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 aufgelöst. Nach diesen Vorschriften werde der deutsche Kindergeldanspruch in Höhe der ausländischen Familienleistung ausgesetzt und es könne nur der Differenzbetrag ausgezahlt werden. Dass die in Belgien vorgesehenen Familienleistungen nicht beantragt worden seien, sei nach Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 unschädlich. Diese Regelung solle gerade verhindern, dass das Zuständigkeitssystem der VO Nr. 1408/71 durch den Verzicht auf die Antragstellung umgangen werde.
Das FG gab der gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid gerichteten Klage statt. Auf die Revision der Familienkasse hob der BFH, der in dieser Sache zwischenzeitlich dem EuGH mehrere Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hatte, das Urteil des FG auf und wies die Klage ab.
Die Gründe:
Ein über das Differenzkindergeld hinausgehender Anspruch auf Kindergeld ist durch § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG i.V.m. Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71 aufgrund des in Belgien bestehenden Kindergeldanspruchs ausgeschlossen.
Sind für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht nach Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats ggf. gem. Art. 73 bzw. 74 VO Nr. 1408/71 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag. Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden (Art. 76 Abs. 2 VO Nr. 1408/71). Die Voraussetzungen des Art. 76 Abs. 1 und Abs. 2 VO Nr. 1408/71 liegen vor.
Vorliegend bestand für den Sohn der Klägerin sowohl ein Kindergeldanspruch nach deutschem als auch nach belgischem Recht. Die in der gesetzlichen Sozialversicherung pflichtversicherte Klägerin war in Deutschland als Arbeitnehmerin abhängig beschäftigt. Gem. Art. 13 Abs. 2 Buchst. a VO Nr. 1408/71 unterlag sie damit, ungeachtet ihres Wohnsitzes in Belgien, den deutschen Rechtsvorschriften. Deutschland als Beschäftigungsmitgliedstaat war damit für die Gewährung des Kindergeldes zuständig. Nach deutschem Recht bestand für die Klägerin im Streitzeitraum für ihren Sohn ein Kindergeldanspruch gem. § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG. In Belgien als dem Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen waren Familienleistungen vorgesehen, die jedoch nicht beantragt wurden. Eine tatsächliche Kumulierung der Leistungen lag daher nicht vor, so dass Art. 76 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 allenfalls über Abs. 2 eingreifen kann (s.o). Ein über das Differenzkindergeld hinausgehender Anspruch der Klägerin ist gem. Art. 76 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 VO Nr. 1408/71 i.V.m. § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.
Nach dem Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (C-4/13) ist Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass er es dem Beschäftigungsmitgliedstaat erlaubt, in seinen Rechtsvorschriften vorzusehen, dass der zuständige Träger den Anspruch auf Familienleistungen ruhen lässt, wenn im Wohnmitgliedstaat kein Antrag auf Gewährung von Familienleistungen gestellt worden ist. Unter diesen Umständen sei daher der zuständige Träger, falls der Beschäftigungsmitgliedstaat in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften ein solches Ruhenlassen des Anspruchs auf Familienleistungen vorsieht, verpflichtet, den Anspruch ruhen zu lassen, ohne dass er insoweit über ein Ermessen verfügt. An dieses EuGH-Urteil im Vorabentscheidungsverfahren ist das nationale Gericht bei seiner Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits gebunden. Nach den deutschen Rechtsvorschriften erfüllt § 65 EStG die Voraussetzungen für eine Ermächtigung, die in Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 vorgesehen sind.
Im nationalen Recht sieht § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind. Die Vorschrift ist nach der Rechtsprechung des EuGH bei eröffnetem Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 unionsrechtswidrig, soweit diese nicht zu einer Kürzung des Betrags der Leistung um die Höhe des Betrags einer in einem anderen Staat gewährten vergleichbaren Leistung, sondern zum Ausschluss führt. Somit kann § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts normerhaltend unionsrechtskonform ausgelegt werden. Dies führt dazu, dass die unionsrechtswidrige Rechtsfolge - hier der vollständige Ausschluss - nicht zu beachten ist, sondern nur eine Kürzung um den im EU-Ausland bestehenden Kindergeldanspruch in Betracht zu ziehen ist.
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