Herr Prof. Wörner, wir sprechen in Deutschland sehr viel über das Tesla-Werk in Grünheide und zunehmend weniger über Wolfsburg, Stuttgart oder München. Wie denken Sie darüber?
Prof. Wörner: Der Markt verändert sich gerade mit großer Geschwindigkeit und Tesla hat hier sicher einen Vorsprung. Der resultiert insbesondere aus den in Kalifornien frühzeitig geschaffenen politischen Rahmenbedingungen, die es erlaubten, auf Basis einer geringen Stückzahl wichtige Erfahrungswerte zu sammeln. Die europäischen Hersteller mögen etwas abgeschlagen wirken, aber entscheidend ist der Massenmarkt und nicht der Pioniermarkt. Die Stärke der OEMs liegt in der Skalierungsfähigkeit und ich gehe davon aus, dass sie in der nächsten Generation sehr viel einfacher in die Großserien-Stückzahlen wechseln können. Pioniere wie Tesla stehen dagegen vor der Herausforderung, erst investieren zu müssen, um neue Produktionsstätten zu schaffen. Die wirkliche Ergebnissituation haben wir erst in 10 Jahren.
Der Bereich Forschung und Entwicklung sowie die zunehmende Globalisierung spielen entscheidende Rollen und sind gerade großem Veränderungsdruck ausgesetzt. Zudem waren die Unternehmen in den letzten zwei Jahren mit bisher unbekannten Risiken konfrontiert. Welche Bewegungen sehen Sie hier? Welche Implikationen hat das für Zulieferer?
Prof. Wörner: Wir befinden uns hier in einem Zielkonflikt. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Märkte China und USA, in denen es die guten Absatzchancen erfordern, Produkte speziell für diese Märkte zu entwickeln. Es bietet sich an, regionale Entwicklungszentren vor Ort aufzubauen, um die lokalen Marktanforderungen erfüllen zu können. Noch viel wichtiger ist aber, die Produktionsstätten direkt daran zu koppeln, um eine schnelle Reaktionsfähigkeit auf Marktveränderungen zu gewährleisten. In der Vergangenheit wurde dahingegen die Produktionsstätten dorthin ausgelagert, wo man Lohn-, Energie- und Logistikkostenvorteile hat, wie wir heute wissen, große Risiken. Im Gegensatz zur Globalisierung stehen die wesentlich veränderten politischen Rahmenbedingungen, sodass wir einen Trend zu mehr Regionalität erleben. Zum einen direkt durch die Ukraine-Krise, langfristig aber vor allem durch das Thema Nachhaltigkeit und die höhere Nachfrage nach regionalen Produkten. Die Branche hat die Chance, zunehmend regionale Kräfte zu bündeln und so die Anforderungen der heimischen Märkte zu bedienen.
Aktuell setzen die meisten OEMs in Deutschland auf E-Mobilität. Was bedeutet das für die Zulieferindustrie?
Prof. Wörner: Die laufenden Technologiesprünge zur Elektrifizierung des Antriebs unterscheiden sich geringfügig im gewählten Energiespeicher – der Batterie – elektrisch oder Wasserstoff. Beide haben eins gemein: sie hinterfragen mindestens 40-45% der aktuellen Fertigungstiefe. Unter anderem reduziert sich dadurch die Anzahl der Baugruppen und in der Folge verkürzen sich Montageabläufe. Dies nimmt den heimischen Herstellern die Chance sich zu differenzieren und Margen werden zunehmend auf die Energiespeichersysteme allokiert. Das führt wiederum dazu, dass eine Vielzahl der heutigen Fertigungstechnologien und des -volumens nicht mehr erforderlich sind. Wir rechnen fest damit, dass neue Zulieferer/Partner entstehen, wohingegen sich „alte“ Unternehmen schwertun werden, ihre Produkte abzusetzen. Daraus resultieren eine Umstrukturierung und gegebenenfalls der Verzicht auf bestehende Unternehmen.
Das heißt, eine massive Konsolidierung ist wahrscheinlich, insbesondere für metallverarbeitende Hersteller bis hin zum OEM? Ist das ein denkbares Szenario für den Standort Deutschland?
Prof. Wörner: In der Vergangenheit haben sich Automobilhersteller über die Antriebstechnologie differenziert. Bedingt durch die hohen Investitionssummen und die hohen Entwicklungsaufwendungen wird es zukünftig eher im Konsortium gelingen können und keinen Differenzierungsbestandteil mehr darstellen. Stand heute sind wir aber noch in einem wachsenden Absatzmarkt. Das gilt sowohl für PKWs als auch für Nutzfahrzeuge (Transporter, LKWs, Busse etc.). Diese Segmente werden in den nächsten zehn Jahren noch weiterwachsen und damit mehr Kapazitäten abrufen. Solange diese Situation vorherrscht, wird sich eine Konsolidierung der vier großen
OEMs noch nicht abzeichnen. Für die dahinter liegenden Zulieferer ist die Situation eine vollständig andere. In der vorhin zitierten Veränderung der Wertschöpfungskette mit geringeren Margen ergeben sich geringere Spielräume. Diese können nur aufgefangen werden, wenn sich die Unternehmen effizienter aufstellen. Ich rechne tendenziell damit, dass kleinere Unternehmen beginnen werden, über Fusionen oder mindestens vorgelagerte Kooperationen nachzudenken, um die Kosten auf größere Stückzahlen zu verteilen. Die Großen hingegen haben noch Spielräume, zumindest bis die Wachstumsgrenze der Wirtschaft erreicht ist.
Man hat den Eindruck, dass die brennenden Themen wie der Technologiesprung oder Nachhaltigkeit nicht gesehen werden wollen oder auch nicht gesehen werden können. Wie ist da Ihr Eindruck, warum reagieren viele mittelständische Unternehmen so zögerlich?
Prof. Wörner: Ich würde das nicht unbedingt als mangelnde Reaktionsgeschwindigkeit bezeichnen. Vielmehr erzeugen die neuen Anforderungen an technologische Entwicklung und Nachhaltigkeit einen so hohen Veränderungsdruck, dass sich automatisch die Frage nach verfügbaren Ressourcen und Kapital stellt und ob ein Unternehmen zu Beginn auf Gewinne bei neuen Produkten verzichten kann, um Erfahrung zu sammeln. Ich glaube, eins der Kernprobleme ist, dass diese Anforderungen außerhalb der Zumutbarkeit für einen klassischen Mittelständler liegen. Es fehlt ihm an Perspektive. Es fehlen auch, trotz aller politischen Bekenntnisse, klare Signale, dass diese Probleme gesehen werden. Wir sprechen hier von Risikokapitalinvestitionen und es ist bekannt, wie der Finanzmarkt auf Risikokapital reagiert.
Wir haben bereits das Thema Nachhaltigkeit angesprochen, das große Wort der CO2 -Neutralität ist in aller Munde. Was kommt da auf die Zulieferer zu?
Prof. Wörner: Der Rahmen ist schon längst über das internationale Klimaschutzabkommen geschaffen und befindet sich aktuell in der Umsetzung in nationales Recht. Konkret gesprochen gilt es, den Energiekonsum von fossilen Energieträgern in eine dekarbonisierte Zukunft zu überführen. Dabei ist es wichtig, die einzelnen Ebenen der CO2-Emissionen zu verstehen, die als Scope 1 bis 3 bezeichnet werden. Unter Scope 1 bezeichnet man alle Energieausstöße, die direkt in der Produktion des betrachteten Unternehmens anfallen. Unter Scope 2 werden der eingekaufte Energiebedarf (Strom und Fernwärme) und die eigens betriebenen Transportketten zusätzlich erfasst. Hier gibt es aber schon die Empfehlung, auch Tier1-Supplier mit in der Gesamtbilanzierung zu betrachten. Scope 3 beinhaltet alle indirekten Emissionsausstöße, die durch den Einkauf von Teilen und Dienstleistungen, die Produktnutzung, -entsorgung sowie indirekte Unternehmensaktivitäten (Dienstreisen, Arbeitsweg der Mitarbeiter, etc.) entstehen. Scope 3 wird heute nur teilweise abgedeckt, soll aber bis 2030 mit einbezogen werden. Im Ergebnis heißt das, dass die betroffenen Unternehmen in der Phase zwischen 2025 und 2030 in das CO2-Reporting und die Besteuerung einbezogen werden, was zu einer Verteuerung führen wird. Auch in der Beschaffung werden Zulieferer aufgrund der CO2-Besteuerung mit höheren Kosten rechnen müssen, insbesondere auch für Materialien vom internationalen Markt. Weiterhin wird der Wettbewerb durch die Suche der OEMs nach Teilealternativen mit einem geringeren CO2-Footprint verschärft.
Kann ein kleiner Mittelständler ein so komplexes Thema überhaupt stemmen? Wie verhalten sich denn die OEMs und die Tier1 ihren Zulieferern gegenüber?
Prof. Wörner: Ich beobachte, dass die OEMs Partner auswählen, die sich mit ihnen auf diese Reise begeben und auf Partnerschaften verzichten, die ehemals aus Kostengründen bevorzugt wurden. Das Zugehen auf die Partner ist immer sehr defensiv und in Diskussionen geht es auf einer sehr abstrakten Ebene um Nachhaltigkeit. Die Entscheidung über den finalen Partner wird dann auf Basis von Fakten gefällt, die nicht kommuniziert werden. Diese Praxis führt natürlich zu Unwägbarkeiten und Unkalkulierbarkeit für den Mittelstand, weil er die Grenzen des Wettbewerbs nicht kennt.
Das ist nicht gerade ein rosiges Bild für die Zulieferer. Wie schätzen Sie deren Lage in Deutschland und Europa in den nächsten 10 Jahre ein? Wie werden sich die Arbeitsplätze in dieser Branche entwickeln?
Prof. Wörner: Es wird sich kaum vermeiden lassen, mittelfristig Personal zu reduzieren – mit etwas Glück geht diese Entwicklung aber mit der Alterspyramide einher. Ist dies nicht der Fall, entsteht ein Überangebot an Arbeitskräften. Aktuell spricht man von circa 20% Einsparungen, die zwingend gesucht werden. Eine zweite wichtige Frage ist: Wer beherrscht die neuen Technologien und mit wem kann ich Partnerschaften eingehen? Es entstehen vielerorts neue Fusionen, nicht mehr nur Kooperationen, wie überwiegend von 2000 bis 2020. Der Wechsel hin zu Plattformen mit größeren Skaleneffekten erfordert ein konsequenteres Durchgreifen, wozu es Strukturen wie im Rahmen von Fusionen braucht. Dies ist auch die Erklärung für Entwicklungen wie die Integration von Opel in den PSA Konzern und in der Folge zusammen mit Fiat Chrysler in den Stellantis Konzern. Auch Partnerschaften, wie aktuell zwischen Iveco und Nikola, lassen sich so erklären.
Das ist auch eine große politische Aufgabe. Wie wird denn dieses Thema dort diskutiert?
Prof. Wörner: Wie so oft muss die Politik zwei sich im Grunde widersprechende Ziele verfolgen. Auf der einen Seite geht es um gute Bedingungen für Unternehmen, die über 2-3 Generationen hinweg denken. Auf der anderen Seite müssen wir als Gesellschaft sehr viel längere Zeiträume in den Blick nehmen, nicht mehr nur Jahre oder Jahrzehnten. Die Politik orientiert sich heute an Megatrends wie Nachhaltigkeit, Treibhausgasminimierung und Digitalisierung. Unternehmen, als Teil der Realwirtschaft, fühlen sich in diesem Prozess mit ihren Sorgen zu wenig wahrgenommen. Für das große Ziel, die Volkswirtschaft in eine neue Richtung zu lenken, werden Rahmenbedingungen zur Förderung geschaffen und es sollen jene unterstützt werden, die mutig genug sind, mit auf die Reise zu gehen – aber nicht jeder wird am Ziel ankommen. Um ihre Frage zu beantworten: es ist eine verhaltene Reaktion der Politik.
Eine Frage zum Abschluss zum Thema Batterie vs. Brennstoffzelle: Denken Sie, wir haben in Deutschland auf das falsche Pferd gesetzt?
Prof. Wörner: Die (Elektro-) Batterietechnologie ist die logische Antwort der Hersteller auf die CO2-Besteuerung. Diese gilt es zu vermeiden und das lässt sich technologisch zur Zeit nur so erreichen. Längerfristig wird sich der Markt aber verändern müssen. Auf dem Massenmarkt werden derzeit 80-90 Mio. PKW produziert und genau hier kommen wir zur zentralen Frage: Wenn ich hundertprozentige Elektrifizierung will, dann muss ich ja auch die entsprechenden Ressourcen für alle Märkte und Hersteller gleichermaßen verfügbar haben, was aber nicht der Fall ist. Wer diese Limitation mitdenkt, wird schnell erkennen, dass wir für dekarbonisierte Massenmobilität eine zweite oder dritte Alternative brauchen. Deswegen ist es nicht falsch, den Wasserstoff als zusätzlichen Energieträger voranzutreiben, um eine vorbereitende Infrastruktur aufzubauen und sich mit kleineren Stückzahlen auf dem Markt zu beweisen. Die fehlende Infrastruktur und die aktuell recht hohen Kosten der Brennstoffzelle im Verhältnis zur Batterietechnologie sprechen zwar noch dagegen, aber wir brauchen diese Alternative.
Spannende Zukunft! Jetzt haben wir viel über andere gesprochen – als zukunftsorientierter Institutsleiter, was sind denn die mittel- bis langfristigen Schwerpunkte Ihrer Arbeit am Institut?
Prof. Wörner: Die Hochschule Esslingen und das Institut für Automobilmanagement stehen für nachhaltige Energietechnik und Mobilität. Es geht hauptsächlich um die Frage, wo Energie eingesetzt wird, wie sie transportiert wird und wo Energie vielleicht auch in andere Formen umgesetzt werden muss. Dazu zählt auch die Versorgungssicherheit über elektrische Netze, der Aufbau der zugehörigen Transportketten bis hin zur abschließenden Frage, inwieweit ein alternativer Energieträger auf Basis von Wasserstoff eine Rolle spielen kann. Hier haben wir schon heute Modellfabriken und Reallabore, in denen wir Wasserstoff auch in größeren Mengen für ganze Städte mit abbilden können. Ein zweites Augenmerk legen wir auf den Bereich der elektrischen Antriebe. Dies kann man sehr gut an unserem Fallbeispiel des Mercedes Benz Actros betrachten, einem 4,6 Tonnen Sprinter. Hier weisen wir nach, dass ein batterieelektrischer Antrieb in Kombination mit der Brennstoffzelle technisch machbar und später für einen Massenmarkt geeignet sein kann. Bei der dritten Säule möchte ich jeden ermutigen mitzuwirken: Es geht um den Aspekt der Lifestyle Assessment Analyse, auch Ökobilanzierung genannt, mit dem wir die Messbarkeit in den vom Gesetzgeber geforderten Kriterien sicherstellen und zwar die Dekarbonisierung bis zum Jahr 2050.
Prof. Dr. Ralf Wörner ist Leiter des Instituts für nachhaltige Energietechnik und Mobilität, Leiter des Instituts für Automobilmanagement, sowie Mitglied der Wissenschaftskommission an der Hochschule Esslingen. Nach seinem Studium mit Vertiefungsrichtung Systemdynamik und Regelungstechnik an der Universität Stuttgart promovierte er am Centre Nationale de Recherche in Nancy zum Thema Verbrennung hocharomatischer Kohlenwasserstoffe und erhielt 1997 den Doktortitel. Anschließend arbeitete er bis 1999 bei der DaimlerChrysler AG im Bereich Forschung mit dem Schwerpunkt in der Entwicklung neuartiger Steuerungssysteme für Verbrennungsmotoren. Es folgten leitende Funktionen bei der Mercedes-AMG GmbH und der Daimler AG im Bereich Motor- und Getriebeentwicklung. Seit 2016 ist er Professor für Fahrzeugtechnik in der Automobilwirtschaft an der Hochschule Esslingen. Zu seinen fachlichen Schwerpunkten gehören u.a. Antriebstechnik, Elektrifizierung von Fahrzeugen, sowie Entwicklungsprozesse im Automobilsektor. Aktuelle Forschungsfelder bilden insbesondere das Thema Elektromobilität und nachhaltige Mobilitätskonzepte.